Vor einem Jahr begann Russlands unprovozierter, imperialistischer, kriegsverbrecherischer Angriff auf die Ukraine. Europa, dessen Leitgedanke seit 1945 „nie wieder“ war, musste feststellen, dass der russische Diktator Wladimir Putin, nach Jahrzehnten friedlicher Koexistenz – trotz Ostpolitik, trotz Wandel durch Handel und trotz struktureller Nichtangriffsfähigkeit – einen Krieg vom Zaun gebrochen hatte.
Schockierend war der eklatante Bruch des Völkerrechts, denn Russland griff ein Land an, dessen Unabhängigkeit, Souveränität und Grenzen zu respektieren es feierlich garantiert hatte, ebenso Gewalt weder anzudrohen noch einzusetzen. Russlands Überfall schien aus der Zeit gefallen, sachlich unerklärbar und im Widerspruch zu gängigen Theorien internationaler Beziehungen, welche Staaten als rationale Akteure deuten. Putin pokerte hoch und setzte florierende Wirtschaftsbeziehungen aufs Spiel, weil er auf einen schnellen Erfolg seiner Armee baute, aber auch auf Europas Dekadenz, militärischer Schwäche und wirtschaftlicher Abhängigkeit.
Schließlich importierte die Bundesrepublik über 50 Prozent ihres konstant wachsenden Erdgasbedarfs aus Russland. 2015, also ein Jahr nach Russlands illegaler Annexion der Krim und zur gleichen Zeit als das Pariser Klimaabkommen ausgehandelt wurde, förderte die großkoalitionäre CDU/SPD Regierung Merkel den Bau der Gasröhre Nord Stream 2 und ließ es zu, dass die deutschen Gasspeicher an Russland verkauft wurden. Gleichzeitig verhinderte man den ernsthaften Ausbau regenerativer Energien, weil Diversifikation und Versorgungssicherheit keine Priorität deutscher Energiepolitik waren. Das deutsche Geschäftsmodell beruhte auf der Einfuhr billiger Energie aus Russland und der Ausfuhr in die ganze Welt von hochwertigen Industrieprodukten. Selbst nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, durfte Gazprom Schalke finanzieren. Deutschland war stolz darauf, Exportweltmeister zu sein und ließ die Bundeswehr verkümmern. Als Willy Brandt 1969 Bundeskanzler wurde, waren Verteidigungsausgaben 3,6 Prozent desdeutschen Bruttosozialprodukts; 2021 waren es noch ein Drittel davon.
Nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion nahm die NATO vor mehr als zwei Jahrzehnten vier Länder auf: Polen, Estland, Lettland und Litauen. Dies wurde unzutreffend als „NATO Osterweiterung“ gedeutet. In Wirklichkeit war es eine Westbewegung. Wie heute die traditionell neutralen Ostseeanrainer Finnland und Schweden, wollten sich Polen und die baltischen Staaten vor Russland schützen und ihre Westorientierung absichern. Selbstverständlich hatte die NATO weder Pläne zur Bedrohung Russlands noch Kapazitäten. Der französische Präsident erklärte die Organisation für hirntot; der US Präsident drohte mit Austritt. Vor dem Angriff hatte Russland freien Zugang zum Schwarzen Meer. Die Krim, wiewohl völkerrechtswidrig annektiert, wurde faktisch als Teil Russlands akzeptiert. Niemand in den USA oder einem anderen NATO Land sprach sich dafür aus, der Ukraine Waffen zur Befreiung der Krim zu liefern.
Trotz bislang 200.000 Toten, fast 18 Millionen Geflüchteter und unermesslicher Zerstörung flackern alte Reflexe wieder auf. Nicht wenige deutsche Politiker, Intellektuelle und Bürger waren bereit, und sind es noch, wegen zu hoher Energiekosten und für die Hoffnung eines Waffenstillstandes, erhebliche Teile der Ukraine den Russen zu opfern. Dies, obwohl Moskau Verhandlungen ausschließt bis Kiew alle illegal annektierten Gebiete abtritt, inklusive solcher, die gar nicht unter russischer Kontrolle sind. "Es kann keinen Friedensplan für die Ukraine geben, der die heutigen Realitäten in Bezug auf das russische Territorium mit dem Beitritt von vier Regionen zu Russland nicht berücksichtigt,“ betont Putins Pressesprecher Dmitri Peskow. Der russische Außenminister Sergei Lawrow verkündet: "Unsere absolute Priorität sind vier neue russische Regionen.“
Wie der Krieg ausgeht, und wann, ist ungewiss. Russland könnte seine Truppen abziehen und ihn sofort, ohne Verhandlungen oder diplomatische Absprachen, beenden. Die Ukraine erhebt keine territorialen Ansprüche auf Russland, sondern führt einen Überlebenskampf. Würde sie ihn einstellen, wäre es das Ende der Ukraine. Solange die ukrainische Bevölkerung weiterzukämpfen bereit ist, liegt die Entscheidung beim Westen, ob die Zerstörung der Ukraine zugelassen wird, oder nicht. Und ob dem Aggressor eine Kriegsbeute zugestanden wird, oder nicht. Der Preis eines faulen Friedens wäre hoch, die Ungerechtigkeit himmelschreiend. Aber unabhängig vom Ausgang ist Russlands Krieg eine Absurdität und eine Ablenkung von der existentiellen Menschheitsaufgabe, nämlich der Erderhitzung, die droht, die Grundlagen der menschlichen Zivilisation zu zerstören. Die räumliche Eingrenzung auf Osteuropa erklärt, warum Russlands Frevel in Lateinamerika, Afrika und Asien als eine Auseinandersetzung innerhalb des reichen Nordens wahrgenommen wird und wenn als Krise, dann nicht als eine sonderlich bedrohliche.
Im Westen ist die Gewichtung anders. Zwar gibt es außerhalb der rechtspopulistischen Nische keine Klimaleugner mehr, wohl aber eine Art von Wirklichkeitsverweigerung, welche die Krise zwar nicht grundsätzlich bestreitet – wie der vormalige US Präsident, in Deutschland die AfD, in Österreich die FPÖ – die aber so tut, als wäre sie ein Politikproblem von vielen und durch das Drehen einiger Stellschrauben hier und da in den Griff zu bekommen. Die Kluft zwischen den unübersehbaren Zeichen und Kosten der Klimakrise einerseits, und den unzulänglichen Gegenmaßnahmen andererseits, ist erstaunlich breit. Woran liegt das? Die menschliche sowie politische Aufmerksamkeitsökonomie ist prinzipiell begrenzt. Ressourcen und Kapazitäten werden durch Krisen gebunden: Letzthin war da beispielsweise Brexit, der orangene US Präsident, Covid, Migration, Erdbeben und Spionageballone. Krisen verhindern, dass Herausforderungen in einer Dringlichkeitshierarchie organisiert und strategisch angegangen werden. Die legendäre Antwort des britischen Premierministers Harold Macmillan auf die Frage nach dem kniffligsten Problem seiner Amtszeit war: „Ereignisse, mein Junge, Ereignisse.“
Der Druck der Tagespolitik, angeheizt von Status Quo Profiteuren, verursacht den weit verbreiteten Realitätsverlust bezüglich der sich beschleunigenden Klimakrise. Ignoriert wird, dass die Erderhitzung ebenso sehr ein Problem der Physik ist wie der Politik. Ignoriert wird auch die Einhelligkeit von Forschern aus der ganzen Welt auf den Fachgebieten Geologie, Geophysik, Geochemie, Paläontologie, Ozeanographie, Atmosphärenphysik, Meteorologie, Glaziologie und weiteren Disziplinen. Kein anderes Thema hat einen mit dem Weltklimarat (IPCC) vergleichbaren Prüfmechanismus in dem hunderte von Wissenschaftlern zehntausende von Fachstudien bewerten und ihre Schlussfolgerungen auf eine systematische, einvernehmliche Wort-für-Wort Prüfung stützen. Der wissenschaftliche Konsens ist, dass die Risiken der Erderhitzung denen eines übergewichtigen, die meiste im Bett verbringenden, kettenrauchenden Trinkers entsprechen. Die Frage ist nicht, ob die Katastrophe, eintritt, sondern wann, wo und mit welcher Wucht.
Einerseits machen die erneuerbaren Energien gewaltige Fortschritte. Zur weltweiten Stromversorgung werden sie in Kürze mehr beitragen als Kohle, Gas, Öl oder Kernkraft. Andererseits ist das 1,5°C Erwärmungsziel des Pariser Abkommens nicht mehr zu erreichen. Schon bei der jetzigen Erwärmung von 1,2°C kommen Extremwetterkatastrophen immer öfter vor, gibt es verheerende Stürme, Fluten, Waldbrände, Dürren, Artensterben, Korallenbleiche, Gletscherabschmelzungen, die Verlangsamung des Jetstreams, Migrationsbewegungen, Konflikte. All dies wird sich verschlimmern wenn die Temperatur noch in diesem Jahrhundert auf katastrophale 2,4°C ansteigt. Dies scheint fast unabwendbar. Die Treibhausgas Emissionen werden nicht stabilisiert, wie in der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen vereinbart, sondern sie nehmen unvermindert zu. Seit Abschluss der Konvention auf dem Rio Umweltgipfel im Jahre 1992 wurde mehr CO2 emittiert als in der vorangegangenen Menschheitsgeschichte.
Die Unzulänglichkeit der Maßnahmen zum Schutz des Klimas und der Artenvielfalt werden mit jedem Tag offensichtlicher. Wir sind nicht auf einem Null-Emissionen Pfad, was nötig wäre, um die Erderhitzung einzuhegen. Der globale Primärenergieverbrauch nimmt weiterhin zu, ebenso die CO2 Emissionen. Was auch zunimmt sind die Profite der globalen Ölkonzerne. Shell notierte einen extravaganten Profit von $42,3 Milliarden, das Doppelte des Erlöses von 2021 und mehr als je ein britisches Unternehmen erwirtschaftet hat. Der französische Total Konzern verdoppelte seinen Profit auf $36 Milliarden.
Bei Russlands Krieg geht es um heute und morgen; bei der Erderhitzung um die nächsten Jahrhunderte. In den kommenden Monaten entscheiden westliche Länder über das Leiden der Menschen in der Ukraine, aber auch – und sei es durch Nichts- oder Zuwenigtun – über die Lebensbedingungen kommender Generationen weltweit. Russlands Krieg zu beenden ist ein Kurzfristproblem, die Erderhitzung aufzuhalten und ihre Folgen abzuschwächen ein Menschheitsprojekt. Weder die Erderhitzung noch Russlands Aggression lösen sich einfach oder von selbst. Darum muss Putin schnell und unzweideutig besiegt werden. Dann besteht eine Chance, zugebenerweise selbst dann nur eine kleine, dass das Menschheitsprojekt Kampf gegen die Erderhitzung, angegangen werden kann.