Das Fotoarchiv ist genauso ungewöhnlich wie die Institution, deren Ausstellungen es dokumentiert. Ausgehend vom frühen 20. Jahrhundert – einer Zeit, in der das Fotografieren von Kunstwerken in Ausstellungen erst aufkam – umfasst es heute über 25’000 Fotos, Glasplattennegative, Polaroids und Dias. Die meisten sind selten gezeigt, andere bereits bekannt. Insgesamt beleuchten sie mehr als 100 Jahre Ausstellungsgeschehen und geben nicht nur Aufschluss über die gezeigten Werke und die Ausstellungen, so wie die vor Ort arbeitenden Künstlerinnen und Künstler, sondern auch darüber, welche Rolle die Kunsthalle Basel und ihr Publikum zu den jeweiligen künstlerischen Avantgarden einnahm. Das Archiv und den Prozess der Katalogisierung, Erhaltung, Digitalisierung und Veröffentlichung des Bestands zu würdigen, sind Anlass für Exposed Exhibitions – Fotoarchiv der Kunsthalle Basel.
Im Wort «exposed» (ausgesetzt oder belichtet) des Titels schwingt das Ausstellen und die fotografische Belichtung mit, zudem versucht die Ausstellung ein neues Licht auf bislang weniger bekannte Ausstellungen zu werfen. Sie beginnt mit einem Zeitstrahl, der einen kurzen Einblick in die Geschichte der Institution gibt. Dem gegenüber hängen vergrösserte Kontaktabzüge, teilweise mit handschriftlichen Anmerkungen versehen. Sie zeigen sowohl unspektakuläre oder falsch belichtete Ansichten als auch jene markierte Auswahl, die dann die Ausstellungen in Veröffentlichungen wiedergaben und dadurch bestimmte Blickweisen auf die Ausstellungsgeschichte der Kunsthalle Basel vorgaben. Diese Kontaktabzüge verdeutlichen, dass Geschichte von einem subjektiven und selektiven Blick konstruiert wird.
Mit Cécile Hummel, Esther Hunziker, dem Duo Doris Lasch und Astrid Seme sowie Raoul Müller und Werner von Mutzenbecher wurden sechs Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Generationen eingeladen, im Fotoarchiv zu recherchieren und neue Arbeiten zu entwickeln. Trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen verbindet sie alle das starke Interesse an Archiven und Fotografie – manche haben persönlichen Bezug zu Basel und zur Kunsthalle. Ihre Arbeiten stehen im Wechselspiel mit der Prä- sentation ausgewählter Materialen aus dem Fotoarchiv, um die höchst unterschiedlichen Interpretationen sichtbar zu machen, die ein Archiv ermöglicht.
Doris Lasch und Astrid Seme beschäftigen sich in ihrem Projekt Das Imaginäre Museum (2017) mit einer sehr politischen Textarbeit der USamerikanischen Künstlerin Barbara Kruger, die 1994 erstmals in der Kunsthalle Basel gezeigt wurde. Der Inhalt der Arbeit, der durch die politischen Ereignisse tagesaktuell wirkt, lässt sich jedoch bei Lasch und Seme nicht sofort erkennen. Das Duo zeigt auf der Wand die Druckbögen ihres Künstlerbuchs, die Krugers Arbeit dekonstruieren. Die ursprüngliche Textarbeit Krugers erschliesst sich buchstäblich erst bei der Lektüre des Künstlerbuchs.
Raoul Müller beschäftigt sich weniger mit Bildinhalten als mit der Systematik des Fotoarchivs. Für ihn ist Sammeln ein zentraler Aspekt seiner Arbeit. Im Internet erwirbt er Bilder und Objekte, die mit seinem Vornamen Raoul in Verbindung stehen. Dieser persönliche Zugriff, der niemals auf Vollständigkeit abzielen kann, ermöglicht es ihm, eine sich stets erweiternde Sammlung anzulegen, für die er nun eben auch Material aus dem Fotoarchiv der Kunsthalle Basel benutzt. Mit Forget it (2013–2017), einer sedimentierten Zusammenschau seiner Archivalien auf sich überlagernden Glasplatten, die an archäologische Grabungen denken lassen, hinterfragt Müller institutionelle Ordnungssysteme und deren Grenzen, um zugleich eine Sensibilisierung für deren Leerstellen zu schaffen.
Die markante Architektur des zweiten Raums mit seinen drei hohen Seitenfenstern wurde über die Jahre hinweg kaum verändert. Die Fenster bieten nicht nur besondere Lichtverhältnisse und einen Blick in den Garten, sondern wurden gelegentlich benutzt, um Kunstwerken oder dem Publikum Zugang in die Räumlichkeiten zu gewähren. Die ausgewählten Archivfotos in diesem Raum ermöglichen einen vergleichenden Blick darauf, wie Künstlerinnen und Künstler im Laufe der Zeit auf die räumlichen Bedingungen des Gebäudes reagiert haben.
Im Zentrum der Ausstellung werden die besonders seltenen und fragilen Originalaufnahmen des Archivs vor Tageslicht geschützt in einer Kabinett-Situation präsentiert. Zu sehen sind bislang unbekannte oder kaum gezeigte fotografische Aufnahmen u.a. zu Ausstellungen mit Werken von Aristide Maillol (1933), Auguste Rodin (1948) und Claude Monet (1949). Sie zeigen aufwendige Retuschen und Blicke hinter die Kulissen von analogen Einzelwerkaufnahmen. Das Negativ von Monets Seerosen (1914–1926) wie die Abzüge von Sam Francis’ Basel Murals (1956–1958) verhandeln einen Bildverlust: Beide Kunstwerke wurden zerstört und leben nur noch auf Fotografie gebannt weiter. Viele der fotografischen Dokumente sind von fragiler und vergänglicher Materialität.
Seien es ausbleichende Polaroids, lösungsmittelverfärbte Abzüge oder ein sich durch das Essigsäuresyndrom auflösendes Negativ: alle erzählen ihre ganz eigene Geschichte. Im Fall des ‹Essigsäure-Negativs› von 1958 sollte die Aufnahme (selbst durch ein chemisch-mechanisches Verfahren entstanden) die in der Ausstellung Kunst und Naturform gegenübergestellten naturwissenschaftlichen und künstlerischen Formfindungen festhalten. Heute wiederholt der unaufhaltsame Zersetzungsprozess auf der Bildoberfläche des Negativs die Formen der damals gezeigten Werke und schafft damit buchstäblich eine Neuinterpretation der damaligen Ausstellung. Gegenwart und Rückblick verbinden sich in Werner von Mutzenbechers neu entstandener Videoarbeit Kunsthalle Film II / 2017. Seine experimentelle Befragung der leeren Kunsthalle Basel, die er erstmals als 16mm-Film zur Ausstellung Für Veränderungen Aller Art im Jahr 1969 durchführte, findet Differenz und Entsprechung in der aktuellen Präsentation vor Ort. Die Reflexion über sein eigenes Filmarchiv wird in der Gegenüberstellung von digitalem Video wie analogem Film deutlich. Esther Hunzikers Videoarbeit Hall (2017) basiert auf dem digitalisierten Bildmaterial des Fotoarchivs. In ihrer künstlerischen Praxis legt sie selbst immer wieder Archive an, aus denen Arbeiten entstehen. Für diese Videoarbeit hat sie aus tausenden digitalen Ausstellungsansichten die abgebildeten Kunstwerke aus ihrem Kontext heraus gelöst und in filmischen Sequenzen neu zusammengefügt. Beim langsamen Überlagern und gegenseitigen Durchdringen der Kunstwerke entsteht ein Moment der zeitlichen wie räumlichen Schwerelosigkeit.
Cécile Hummel arbeitet häufig mit Bezügen zu Fotoarchiven und ist selbst eine Bildersammlerin. In den Fotodokumenten zur Amtszeit von Arnold Rüdlinger (Konservator Kunsthalle Basel 1955–1967) fand Hummel Aufnahmen von zwei ethnografischen Ausstellungen im Jahr 1962: Nigeria 2000 Jahre Plastik und Die Kunst NeuGuineas. In ihren eigenen Fotografien beschäftigt sich Hummel sowohl mit der Qualität und Fragilität historischer Fotodokumente als auch mit der Wirkung der abgebildeten Kunstwerke. Letztere finden Eingang in ephemere, fluoreszierende Wandmalereien, welche die Aneignung der Kunst anderer Kulturen reflektieren und ein Schlaglicht auf deren Reproduktions- wie Rezeptionsgeschichte werfen.
Wenn «Kunstgeschichte» wie der Schriftsteller André Malraux einst sagte, «eine Geschichte des Fotografierbaren» sei, dann bietet das Fotoarchiv zur Kunsthalle Basel – so vielfältig wie hier gezeigt und von den Künstlerinnen und Künstlern eindrucksvoll interpretiert – ein wesentliches Werkzeug zum Verständnis, wie Kunstgeschichte und vor allem wo sie geschrieben wurde. Es spiegelt sich darin aber auch der lebendige Einfluss von Basel als wichtigem Schauplatz für Künstlerinnen und Künstler, denen die eigentliche Autorenschaft dieser Kunstgeschichte zukommt.