Am 16. November finden in Chile Präsidentschaftswahlen statt. In den vergangenen 30 Jahren galt der Andenstaat als Musterbeispiel für Wohlstand und politische Stabilität. Hohe Wachstumsraten, geringe Staatsverschuldung und Haushaltsdefizite, ein breites Netz von Handelsabkommen, ausländische Investitionen, eine deutliche Verringerung der Armut und andere Faktoren machten Chile zu einem Vorbild für ganz Lateinamerikas, aber auch für die Industrieländer, die Chile als verlässlichen Partner in Politik und Wirtschaft schätzten.
All dies gehört heute der Vergangenheit an. Und ein Teil der Regierung von Präsident Gabriel Boric, die sich aus einer harten Linken und einer sozialdemokratischen Partei zusammensetzt, sehnt sich nun danach zurück. Die harte Linke, der auch der amtierende Präsident angehört, die sich heute in der Frente Amplio (Breite Front) zusammengeschlossen hat und die bereits Gegner der letzten Regierung von Michelle Bachelet war, träumte davon, mit der Übernahme der Präsidentschaft „den Himmel im Sturm zu erobern“. Bis heute halten sie an einem Großteil der Kritik fest, die sie an der 30-jährigen Wachstumsperiode des Landes geäußert hatten. Ein Teil davon war durchaus berechtigt und ermöglichte es ihnen, innerhalb von nur zehn Jahren von den Universitäten aus ein Projekt zu entwickeln, das in den Regierungspalast einzog, um im Wesentlichen dem Neoliberalismus ein Ende zu setzen und ein neues Modell der wirtschaftlichen Entwicklung einzuführen.
Die ersten Risse zeigten sich in der massiven Ablehnung des ersten (linksgerichteten) Verfassungsentwurfs im Rahmen einer Volksabstimmung, gepaart mit politischer Unerfahrenheit, undurchsichtigen Situationen, Korruptionsskandalen und Arroganz, vor allem aber in dem Unvermögen, die Grundlagen des von der Pinochet-Diktatur geschaffenen Wirtschafts- und Sozialmodells zu überwinden: Weder das private Renten- und Gesundheitssystem noch die Verfassung konnten reformiert werden, und die Regierung wird nur noch ein Jahr im Amt sein. Zu den positiven Errungenschaften zählen die deutliche Anhebung des Mindestlohns auf etwas über 540 Dollar, eine auf einige Aspekte der Renten beschränkte Reform und die Begleichung der seit über 30 Jahren aufgelaufenen Schulden gegenüber den Lehrern, neben einigen anderen Initiativen. Doch wird diese Regierung eher für ihre Versprechen als für ihre Taten in Erinnerung bleiben.
Die massive Einwanderung von mehr als einer Million Menschen in den letzten zehn Jahren und eine in der chilenischen Gesellschaft beispiellose Welle der Gewalt (abgesehen natürlich von den abscheulichen Verbrechen und Diebstählen der Militärdiktatur) haben das politische Szenario verändert. Das geltende Wahlrecht wird bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im November eine wichtige Rolle spielen, denn die Verfassung gewährt Ausländern, die seit fünf Jahren legal in Chile lebt, das Wahlrecht, ohne dass sie die chilenische Staatsbürgerschaft erlangen müssen.
Wie die Wahl ausgehen wird, ist noch ungewiss, auch wenn die Umfragen derzeit eine Mehrheit für die Rechte vorhersagen. Die regierungstragenden Kräfte sind geschwächt, in verschiedenen Fragen gespalten und es fehlt ihnen an einer identitätsstiftenden und einigenden Führung.
Die Rechte hat derzeit drei Präsidentschaftskandidaten, die zu einer Art „deutscher Division“ in der chilenischen Politik geworden sind, da alle drei deutsche Nachkommen der zweiten und dritten Generation sind: Evelyn Matthei (71), José Antonio Kast (59) und Johannes Kaiser (49). Matthei, eine studierte Wirtschaftswissenschaftlerin, stammt von deutschen Siedlern ab, die im 19. Jahrhundert nach Chile kamen.
2013 war sie Präsidentschaftskandidatin der Rechten. Sie kandidierte gegen Michelle Bachelet, erhielt aber nur 37,38 % der Stimmen. Sie war Ministerin und Senatorin der rechten Partei Unión Demócrata Independiente (UDI) und trat vor kurzem als Bürgermeisterin zurück, um bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Ihr Vater war Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Mitglied des Militärrates, der 17 Jahre lang von Pinochet geführt wurde. Als der Diktator aufgrund eines internationalen Haftbefehls eines spanischen Richters in London verhaftet wurde, protestierte Evelyn Matthei empört und forderte vor den Botschaften Großbritanniens und Spaniens in Santiago seine Freilassung. Außerdem rief sie dazu auf, die Diplomaten mit Tomaten und Eiern zu bewerfen und englische und spanische Produkte zu boykottieren, wie Videos aus jener Zeit belegen.
José Antonio Kast ist der Sohn eines Offiziers der deutschen Wehrmacht, der nach seiner Einberufung 1942 den Rang eines Leutnants erreichte. Sein Vater kämpfte im Zweiten Weltkrieg, gemeinsam mit seinen sieben Brüdern, von denen nur zwei überlebten. Der Sohn, von Beruf Rechtsanwalt, war viermal Abgeordneter der UDI, die er verließ, um die Partido Republicano zu gründen, die Verbindungen zur AfD in Deutschland, zu Vox in Spanien, zur argentinischen Regierung von Javier Milei und zur salvadorianischen Regierung von Nayib Bukele unterhält. Er war zweimal Präsidentschaftskandidat: 2017 erhielt er 7,93 % der Stimmen und 2021 gewann er den ersten Wahlgang mit 27,91 %, unterlag aber in der Stichwahl dem derzeitigen Präsidenten Gabriel Boric. In der Stichwahl erhielt Kast 44,13 % der Stimmen, die er vor allem von rechten Parteien erhielt.
Johannes Kaiser studierte Rechtswissenschaften und belegte Kurse in Philosophie, Geschichte und Soziologie an Universitäten in Chile, Deutschland und Österreich, ohne jedoch einen Abschluss zu erlangen. Sein Großvater väterlicherseits war ein deutscher sozialdemokratischer Einwanderer, der 1936 nach Chile kam und eine Nachfahrin deutscher Siedler heiratete. Er wurde 2021 zum Abgeordneten der Partido Republicano gewählt, die er im vergangenen Jahr endgültig verließ, um die Partido Nacional Libertario zu gründen, die sich am Vorbild des derzeitigen argentinischen Präsidenten Javier Milei orientiert und dessen Präsidentschaftskandidatur er anstrebt. Milei wird Frauenfeindlichkeit vorgeworfen, er rechtfertigt die Morde der Pinochet-Diktatur und ist in Wertefragen ultrakonservativ.
Matthei und Kast waren Befürworter der Militärdiktatur im Plebiszit von 1988 und der Fortsetzung der Herrschaft Pinochets für weitere acht Jahre. Kaiser war noch ein Kind, erklärte aber, dass er Pinochet bewundert. Unter diesen drei Optionen gibt es bisher zumindest keine Einigung auf einzigen Kandidaten. Kast hat angekündigt, dass er zur Wahl antreten wird, in der Hoffnung, einen Teil der Rechten mit sich zu reißen, und Kaiser hat angedeutet, dass er sich der Herausforderung stellen wird, wenn er in den Umfragen zur Wahlabsicht die 20 Prozent-Marke erreicht. Beide ziehen Stimmen von Matthei ab, die versucht, eine Mitte-Rechts-Partei zu repräsentieren, die aber ihre Vergangenheit nicht verleugnen kann.
Präsident Boric seinerseits befürwortet einen Kandidaten oder eine Kandidatin, die alle Kräfte von der Kommunistischen Partei bis zur Christdemokratischen Partei vereint. Die einzige Person, die dieses Ziel erreichen könnte, ist die ehemalige Präsidentin Michelle Bachelet (73), die bereits zweimal das Präsidentenamt innehatte (2006-10 und 2014-18), aber wiederholt erklärt hat, dass sie nicht ein drittes Mal kandidieren wolle.
Trotz ihrer großen Popularität sprechen die Umfragen derzeit nicht für sie, da die politischen Parteien im Allgemeinen in Verruf geraten sind, sie für einige eine abgenutzte Figur ist und die derzeitige Regierung mit 29 % Zustimmung nur wenig Unterstützung genießt (Plaza Pública, Cadem, Februar 2025). Eine zweite Kandidatin ist Carolina Tohá (59), die derzeitige Innenministerin und Nummer zwei in der Regierung. Sie stellt eine Alternative dar, die Kontinuität und zugleich Erneuerung, Mut und Führungsstärke verkörpert. Allerdings müsste sie ihr Ministeramt aufgeben, sollte sie sich für eine Kandidatur entscheiden. Dann werden wir sehen, was die Umfragen sagen, die heute nicht für sie sprechen. Die studierte Juristin und promovierte Politikwissenschaftlerin der Universität Mailand gehört dem Mitte-Links-Reformerlager bzw. der Sozialdemokratie an. Sie war Abgeordnete, Ministerin und Sprecherin in der zweiten Regierung Bachelet und Bürgermeisterin von Santiago.
Die harte Linke, die sich in der Frente Amplio zusammengeschlossen hat, sowie die Kommunistische Partei müssen einen Kandidaten oder eine Kandidatin benennen, um an einer breiten Vorwahl mit dem Mitte-Links-Lager teilzunehmen oder eigene Kandidaten aufzustellen. Dies wird nicht einfach sein, da die Meinungen über die Unterstützung der Diktaturen in Kuba, Venezuela oder Nicaragua auseinandergehen: eine schwere Last, die die Kommunisten nicht abwerfen wollen. Heute versteht Präsident Boric, den die Realität über revolutionären Bestrebungen einholte, die Notwendigkeit von Einheit und Reformen, um voranzukommen und vor allem eine breite parlamentarische Mehrheit aufzubauen, die für die Demokratisierung der chilenischen Gesellschaft von grundlegender Bedeutung ist.
Auch wenn die Umfragen derzeit Matthei mit 20% der Stimmen favorisieren (Cadem, Februar 2025), ist der Kampf um die Führung des Sektors zweifelhaft, da Kast sich weiterhin weigert, an den Vorwahlen teilzunehmen, während Kaiser in den Umfragen zulegt und 10% erreicht und damit Kast überholt, der auf 9% kommt (Cadem, Januar 2025). Generell werden die Wahlen von zwei Variablen beeinflusst, die die Regierung Boric erst spät erkannt hat und die die Unterstützung der Bevölkerung untergraben: die zunehmende Gewalt und Kriminalität in den wichtigsten Städten des Landes und die massive Einwanderung, die im kollektiven Bewusstsein – nicht ganz zu Unrecht – mit Gewalt assoziiert wird. Beides nährt das wachsende Unsicherheitsgefühl in Chile. Wie heute in vielen Ländern werden große Teile der Bevölkerung und die Schwächsten diejenigen wählen, die diese Themen in den Mittelpunkt ihres Diskurses gestellt haben, um die Regierung von Präsident Boric anzugreifen.
Chile wird das Jahr 2025 unter der Unsicherheit des globalen Szenarios erleben, das die chilenische Wirtschaft beeinträchtigen könnte, wenn die einseitigen Maßnahmen zur Anwendung von Zöllen, die von der geschwächten Welthandelsorganisation (WTO) geregelt werden, umgesetzt werden. Hinzu kommt die Warnung von Präsident Trump, das altbekannte Faustrecht anzuwenden, um die lateinamerikanischen Länder in einer uneinigen und gespaltenen Region, in der es keinen politischen Dialog zwischen den Regierenden gibt und ideologische Positionen Vorrang vor regionalen Interessen haben, auf eine Linie zu bringen. In diesem Rahmen wird der Präsidentschaftswahlkampf in Chile stattfinden, der die Extreme radikalisieren wird: auf der einen Seite der alte Pinochetismus, der den Sektor auf die eine oder andere Weise vereinen wird, und auf der anderen Seite eine gespaltene Linke, die in der gegenwärtigen Regierung ihre Schwierigkeiten bei der Koexistenz bewiesen hat.
Die neuen Generationen, denen es an Vorbildern und Idealen mangelt, werden von den sozialen Netzwerken, den „Influencern“, den Marken, den Millionen berühmter Fußballspieler und den Geldmagnaten geblendet, die einen Teil von ihnen auf der Suche nach Antworten auf ihre Forderungen in den Populismus treiben. Die Wahlen im kommenden November werden ein kleiner Vorgeschmack auf die tiefgreifenden Veränderungen in der chilenischen Gesellschaft sein.