Interessen, nicht Ideen, beherrschen das Handeln der Menschen.
(Max Weber)
Die Wahl in den USA ist geschlagen. Wie ist es möglich, dass sie von einem erstinstanzlich verurteilten Kriminellen – mit drei anhängigen Strafverfahren –, einem Milliardär, vulgären Sexisten, erklärten Rassisten und Faschisten erdrutschartig gewonnen wurde? Die Gründe sind lokale Varianten derselben Ursachen, welche bei den Europawahlen im Juni die rechtsextremen Parteien Fratelli d’Italia, Rassemblement National (Frankreich) und Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) zu den stärksten Parteien ihrer Länder werden ließen, im September die AfD bei den Landtagswahlen in Thüringen sowie die FPÖ auch bei den Nationalratswahlen in Österreich. Bei den Europawahlen und den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg wurde die AfD zweitstärkste Partei, hauchdünn hinter der CDU bzw. der SPD. Viele Bürger haben kein Vertrauen mehr in Demokratie und zögerliche Politiker. Sie sind besorgt, verzagt, sauer gar, weshalb sie einfache Sprache und simple Lösungen goutieren und der Welt die Zunge herausstrecken.
Sie wollen, dass sich alles wandelt, aber dass es wieder so wird, wie man sich einbildet, dass es früher einmal war. Mit großer Skepsis stehen sie allen Moralaposteln und allem Elitären sowie Progressivem gegenüber. Man mag das für falsch halten oder durch dunkles Geld, ausländische Manipulationen und gelenkte Soziale Medien verursacht, was sicherlich eine Rolle spielt. Aber Wahlen sind auch Teil eines Kulturkampfs, in welchem die Rechte wirtschaftliche Interessen hinter ideologischen Symbolen – Migration, LGBTQ, Transrechte, Sprachpolizei – versteckt, und die Linke prompt darauf hereinfällt.
Was hat das Dienstwagenprivileg mit Arzneibeipackzetteln zu tun? Bei ersterem geht es um handfeste Interessen und Einfluss, bei letzterem um performativen Radikalismus, um Symbolpolitik. Beide schwächen demokratische Vernunft und verhindern konstruktive Problemlösung. Deutschland subventioniert fossil betriebene Dienstwagen jährlich mit €13,7 Milliarden aus Steuergeldern; die EU lässt sich diesen ökonomischen und ökologischen Unsinn €42 Milliarden kosten,1 was weniger öffentlichen Unmut erregt als das generische Maskulinum bei Medikamentenwarnungen. Also dass man sich mit Fragen an seinen Arzt oder Apotheker wenden soll, als würden Ärztinnen und Apothekerinnen, weil nicht ausdrücklich genannt, damit ausgegrenzt, marginalisiert, stigmatisiert, unsichtbar gemacht werden.
Organisierte Interessenvertreter – z.B. Bauern, Autohersteller, Fluglinien, Banken – können ihre Forderungen auch gegen wirtschaftliche Vernunft durchsetzen. Überraschender ist, dass für zunehmend mehr Wähler Ideologien und Kulturkampfthemen dringlicher sind als wirtschaftliche Interessen. Woke Aktivisten sehen Sprache als zentralen Austragungsort von Gerechtigkeitsfragen und verkämpfen sich in absonderlichen Nischen. Das generische Maskulinum steht offenbar diskriminierungsfreier Kommunikation im Weg und wer nicht gendert, spricht nonbinären Menschen die Existenz ab, gilt als ewiggestrig, ja gar als reaktionär oder gegenüber Minderheiten feindlich gesinnt. Statt von schwangeren Frauen, soll von schwangeren Menschen gesprochen werden, statt einfach Feministinnen gibt es intersektionale Feministinnen, binär denkende Feministinnen und Feministinnen, die gendern.
Wer darf bei Minderheitendiskursen mitreden? In manchen postkolonialen Lesarten können Menschen weißer Haut prinzipiell nicht als Opfer von Rassismus gelten. Wenn ein weißer Autor über nigerianische oder mexikanische Familien schreibt, wird es als kulturelle Aneignung denunziert. Solche Diskurse verschaffen sich zwar Gehör, aber auf Kosten grüner Themen, die ohnehin nicht hoch im Kurs stehen, sei es aus Furcht vor Inflation, Migranten, Wirtschaftskrise und Krieg, oder weil Aktivisten der Letzten Generation, von Extinction Rebellion oder solche wie Greta Thunberg, die den Israel-Hamas Krieg zum Klimathema erklärt, die Erderhitzung vollends zum ideologischen Kampfgebiet machen.
Die Rechte steht internationaler Zusammenarbeit, der EU, NATO und Unterstützung der Ukraine im Abwehrkampf gegen die russische Aggression skeptisch gegenüber. Sie stellt die Notwendigkeit von Klimaschutz infrage, ist gegen bezahlten Mutterschaftsurlaub, staatliche finanzierte Kindertagesstätten, gegen Einwanderung und, höchst ironisch eigentlich, gegen Versuche, mäßigend auf die israelische Regierung einzuwirken. Sie profitiert von Polarisierung und Ideologisierung, auch weil die greifbaren Probleme der massiven Zuwanderung links verkannt oder ignoriert werden. Es gehört sich nicht darüber zu reden, dass sie Löhne drückt, günstigen Wohnraum verknappt, den Zugang zu Kassenärzten und Kindergärten erschwert, Kriminalität und Gewalt gegen Frauen zunehmen lässt und Kinder in Klassen beeinträchtigt, in denen die Mehrheit nicht Deutsch spricht. Aber ein Zurück in ein goldenes Zeitalter steht ernsthaft nicht zur Debatte, auch weil die internationalen Verwerfungen – Kriege, Klimawandel, wirtschaftliche Not – zu neuen Flüchtlingsströmen und finanziellen Belastungen führen werden.
Globalisierung und Digitalisierung haben die Welt zusammenschnurren lassen und den allgemeinen Wohlstand erhöht, aber sie haben auch lokales Leben – Geschäfte, Zeitungen, Vereine, Kirchen, Kneipen – lahmgelegt und Wählergruppen neu gemischt: je städtischer, weiblicher, gebildeter, wohlverdienender und älter, desto linker, gesundheits- und umweltbewusster; je ländlicher, männlicher, ungebildeter, jünger und einkommensschwächer, desto rechter, ungesünder und indifferent bis feindselig Umweltthemen gegenüber. In diesem Kulturkampf geriert sich die Rechte als volkstümlich sowie wirtschaftsnah und denunziert die Linke als elitär. Mit abgehobener Gendersprache, Identitätspolitik und polarisierenden Randthemen wie dem strukturellen Rassismus laufen viele in diese Falle und heizen den Kulturkampf unnötigerweise an.
Dabei zählen die Rechtswähler in den USA, Deutschland, Österreich, Frankreich, Ungarn und anderswo wirtschaftlich und finanziell zu den größten Verlierern ihrer Parteien. Diese fordern Steuerentlastungen für Spitzenverdiener, eine stärkere steuerliche Belastung für Menschen mit geringen und mittleren Einkommen, mehr Protektionismus, Abschottung und geschlossene Grenzen, nicht nur für Menschen, sondern auch für die Wirtschaft. Vor allem aber machen sie Angst und gaukeln vor, die Vergangenheit mit billiger Energie und Verbrennermotoren, ohne Unwetter und Pandemien sei wieder herstellbar. Die linke Frivolität ist eine Ablenkung, aber die rechte Illusion ist brandgefährlich. Wie wöchentlich in den Abendnachrichten zu sehen ist, beschleunigt sich die Krise. Die unaufhaltbaren, immer größeren Schäden, werden bezahlt müssen, je mehr in der Zukunft, je weniger jetzt angelegt wird. Die Begrenzung der Erderwärmung würde ca. €1 Billion pro Jahr an Investitionen erfordern, was viel ist, aber weit weniger als die zu erwartenden €40 Billionen an jährlichen Schäden.2
Die Klimakrise ist eine Krise fossiler Brennstoffe, verursacht von skrupellosen Geschäftemachern. U.S. Ölkonzerne finanzierten Trumps Wahlkampf mit über einhundert Millionen Dollar,3 eine gute Investition angesichts der Subventionen von jährlich $700 Millionen.4 Trumps Wahlgewinn brachte den reichsten zehn Amerikanern unerhörte $64 Milliarden an Gewinn, seinem Hauptunterstützer Elon Musk allein $26 Milliarden.5 Die Erderhitzung in den Griff zu bekommen, also bis 2050 die Emissionen von Treibhausgasen auf null zu senken, würde jährlich ungefähr 1 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung erfordern.6 Zu teuer für die Rettung der Welt?
Das größte Hindernis einer klugen Klimapolitik sind nicht verblendete Woke Aktivisten, denen eher die Rolle nützlicher Idioten zukommt, sondern die wirtschaftlichen und politischen Meinungsführer, die bereit sind, für kurzfristigen Profit, die menschliche Zivilisation aufs Spiel zu setzen. Von ihrer systematischen Verantwortungslosigkeit und von der zunehmenden wirtschaftlichen Ungleichheit wird durch die Forderung individueller Freiheiten im Bereich der Identitätspolitik abgelenkt. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob Max Webers Diagnose auf den Kopf gestellt werden muss, also ob Menschen ihre langfristigen Interessen – die Bewahrung der menschlichen Zivilisation – geringer schätzen als populistische Ideologien.
Anmerkungen
1 Transport and Environment, “Fossil fuel subsidies for company cars cost EU taxpayers €42 billion every year – new study”, Press Release, Mo. 21.10.2024.
2 Maximilian Kotz, Anders Levermann and Leonie Wenz, “The economic commitment of climate change”, Nature, 626, Mi. 17.04.2024.
3 Rachel Frazin and Taylor Giorno, “Oil bigwigs open wallets for Trump after billion-dollar request“, The Hill, Do. 31.10.2024.
4 Simon Black, Antung A. Liu, Ian W.H. Parry, Nate Vernon-Lin, “IMF Fossil Fuel Subsidies Data: 2023 Update”, International Monetary Fund, Do. 24.08.2023.
5 Dan Milmo, “Trump’s victory adds record $64bn to wealth of richest top 10”, The Guardian, Do. 07.11.2024.
6 United Nations Environment Programme (UNEP), The Emissions Gap Report 2024: No more hot air … please!, Do. 24.10.2024