Auch wenn Hugo van der Goes nicht zu den berühmtesten Malern der Geschichte zählt, ist er unter den Unbekanntesten ein signifikanter Künstler des Spätmittelalters, dessen Vorstellung von Jesus Geburt und das Leben Mariä sein künstlerisches Schaffen beeinflusst hat. Van der Goes, vermutlich in Gent geboren, lebte zwischen 1440-1482 im heutigen Belgien. Sein Werk „Die Anbetung der Könige“ gehört zu den frühchristlichen Werken überhaupt und konfrontiert uns direkt mit dem Einfluss der „Legenda aurea“ (zu Deutsch die Goldene Legende) auf die Malerei.
Das Buch, das Experten als apokryphen Text betrachten, sammelt Informationen, deren Ursprung in die Ferne des Früh- und Hochmittelalters blicken lässt. Die wertvollen Elemente des Manuskripts von Jakobus de Voragine werden erst im 13. und 14. Jahrhundert in der Kunstgeschichte berücksichtigt und in Kunstwerke hineingeleitet. Einen großen Teil der Ereignissen der „Legenda aurea“ berichtet die Bibel nicht und es war daher für die Künstler des Mittelalters eine Inspirationsquelle, die sie unbedingt lesen mussten. Bei Der Anbetung der Könige wird eine Legende wiedergegeben; drei Könige aus dem Fernost, die Jesus zuerst gehuldigt haben sollen, hatten einen Stern über Bethlehem gefolgt. Charaktere dieser Geschichte kommen unmittelbar aus der „Legenda aurea“, denn im Neuen Testament, hier ist ja punktuell gemeint die Evangelien von Matthäus und Lukas, steht sie kurz ausgedrückt. Daraus wird beispielsweise die Zahl der Sterndeuter - so werden die Könige im Matthäus Evangelium erwähnt - vermutet aber die Regionen oder Bezirke, wo sie herkamen, werden nicht genannt.
Gerade aus diesem Grund ist das Buch von De Voragine so wichtig für die Geschichte des Christentums. Er ist der Erste, der die Information schriftlich erfasste, dass die Sterndeuter, anhand der Zahl der Geschenke: Gold, Weihrauch und Myrrhe, drei Personen hätten sein können. Wie und warum wichtige Inhalte der Legenda aurea mit der Bibel nicht übereinstimmen ist, meine Meinung nach, ein Rätsel. Die historischen Beweise in der Erzählungen der Evangelisten sind jedenfalls glaubwürdiger als alles andere. Jedoch, die Legenden, Themen, Aussagen, Berichte, Ideen und Werte, die Jakobus de Voragine offenbar macht, bringen uns in eine ganz andere Dimension, bei der er uns durch die Wahrnehmung des Glaubens führt. Der Autor sammelte im Buch etwa mehr als tausend Jahre Traditionen aus dem Volksmund, welche sich mehr oder weniger stark im kollektiven Bevölkerungsgedächtnis aller Abendländern geprägt hatten. Durch die erste Veröffentlichung des Manuskripts fing an, ein stärkeres Glaubenslicht zu brennen, dessen Strahlung sich in der Kunst weiter vervielfachte. Im Endeffekt war der Einfluss so stark, dass Maler und Bildhauer seit dem 13. Jahrhundert die „Legenda aurea“ lesen mussten, bevor sie einen Auftrag durchführten.
Dem Einfluss entfloh Hugo van der Goes nicht. Im Bild, Die Anbetung der Könige, stellen wir fest, dass alle offenbarten Elemente der Geburt Jesu in der Gesamtheit integriert sind. Das im niederländischen Stil bemerkenswerte Gemälde zeigt uns auch unterschiedliche kleine Szenen, die zum mittelalterlichen Alltag gehören. Auf dem ersten Blick macht die Umgebung einen verzauberten Eindruck, nämlich, die Ruine einer alten Burg, was für die Zeit, 1470, durchaus etwas Modernes war. Zudem ist die Ausdruckskraft der Figuren so gut gelungen, dass eine aufgrund der verschiedenen Bezugsebenen Dreidimensionalität des Raumes vorhanden ist. Der Effekt liegt grundsätzlich an der Konturen der Figuren und deren Kleidung. Auch die Farben verleihen den Sterndeuter einen Anstrich von Heiligkeit, denn zwei von denen knien vor Maria, Joseph und Jesu. Die im Hintergrund stehenden Figuren, insgesamt vier Männer, lassen uns darüber spekulieren, dass sie Dorfbewohner sein können. Die Zwei auf der linken Seite kann man aufgrund der Haltung nicht genau identifizieren. Jedoch sind die weiteren Männergestalten deutlich erkennbar und zuordenbar, beide haben die gleichen Gesichtszüge, als wären sie Zwillingsbrüder. Angesichts der Kleidung sind sie angezogen wie Diener einer wohlhabenden Familie. Bei dem Kunstwerk ist die Tageszeit der Anbetung die wichtigste Besonderheit. Im Gegensatz zu anderen Gemälden findet die Szene tagsüber statt, was für Van der Goes eine Herausforderung gewesen war. Denn alle Figuren und Gegenstände, die man im Vorder- und Hintergrund auf dem Bild sieht, sind lichtstark dargestellt. Das Licht ist so intensiv, dass die Schatten der Objekte minuziös wiedergegeben sind. Gleichzeitig geht die Schattierung ineinander verwischt, ohne die Umrisslinien zu verlieren. Die Anbetung der Könige von Hugo van der Goes unter dem Einfluss der „Legenda aurea“ ist in dieser Vorfastenzeit hinsichtlich der Seligkeit Mariä und der Gefühlsregungen der Dreikönige sehenswert, um darüber nachzudenken, dass unser Retter einst unter uns war.