Obwohl die Arbeit der Frauen ein häufiges Motiv der niederländischen Malerei im 17. Jahrhundert war, fühlt sich Jan Vermeer berufen, die Werke mit einer göttlichen weiblichen Zärtlichkeit zu komplementieren. Auch wenn das Arbeitsmotiv der Fokus der Szene bleibt, bettet der Maler diesen weiteren Ausdruck in dessen Umgebung ein.
Das Bild „Frau mit Waage“, auch „Die Perlenwägerin“ genannt (Öl auf Leinwand 43X38 cm), ist in ihrer Botschaft einfacher zu analysieren. Durch die wenigen Elemente sieht man einen klaren Bildaufbau, bei dem eine Frau vor einem Tisch steht und eine Waage in der Hand hält.
Sie steht im Licht eines Fensters und lächelt mit entspanntem Gesicht. Auf dem Tisch steht eine kleine Schatztruhe, deren Klappe geöffnet ist und vom Tageslicht angeleuchtet sind winzige Perlen aus Gold und Silber zu sehen. Eine der silbernen Perlen liegt auf der Waagschale und leuchtet im Intensitätskontrast mit dieser.
Die Hauptfigur des Bildes übermittelt das geistige Urteilsvermögen eines Menschen mit einem friedlichen Gesichtsausdruck, wo das Gute und das Schlechte im Leben sortiert wird, um gründlich über Geschehnisse nachzudenken. Im bildlichen Kontext des Werkes spielt die Waage eine besondere Rolle, denn ohne sie kann die Frau den Wert, gut oder schlecht, nicht messen. Ein weiteres Detail der Hauptfigur ist ihre vermutliche Schwangerschaft, auch wenn Kritiker und Experten meinen, Frauenkleider seien damals so breit gewesen, ergibt sich aus dem Bild meiner Meinung nach mehr als ein hypothetischer Zweifelsgrund. Letztendlich gibt es im Hintergrund der Szene ein Bildfragment „Des jüngsten Gerichts“, dessen symbolische Präsenz die Atmosphäre vollständig ändert. Außerdem können wir auch daraus ersehen, dass Vermeer die Symbolkunde des Christentums sowohl im Mittelpunkt als auch im Hintergrund platziert hat, um die Zusammensetzung bzw. die christliche Nachricht deutlicher zu vermitteln.
An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass die Konfession des Künstlers bei dem Werk zu spüren ist, wie bei der Allegorie des Glaubens. Er war in seiner Zeit ein unbedeutender Künstler, bekam keine kirchlichen Aufträge, wollte seine Bilder ausstellen und verkaufen, aber war vollkommen der Armut ausgesetzt. Trotz alledem hatte er den Glauben nicht verloren, wenige Maler aus dieser Zeit drückten so gut eine mystische Botschaft aus. Leider weckte er erst nach seinem Tod das Interesse an den Motiven seiner Kunst. Die Raumdarstellung, die Vermeer uns in vielen seiner Werke präsentiert, transportiert uns in eine unbekannte Zeit, in der die Bilder nicht immer religiöse Elemente besaßen, aber nicht seltsam waren. Sicherlich erschafft der Maler eine Verbindung zwischen dem Abwägen der bösen und guten Taten und „Dem jüngsten Gericht“, was für Christen bedeutet; die Rettung unserer Seele, die Urteilskraft Gottes, den entscheidenden Moment, in dem wir die Gnade der Präsenz Gottes erhalten würden. Diese meisterhafte Zusammenlegung beider Konzepte im Bild ist mit der sinnlichen Haltung der Hauptfigur aufgerundet.
Aber wie ist es möglich, dass so eine Vollendung mit den genauen Grundbegriffen erdacht werden kann? Jan Vermeer, wie alle seiner Zeitgenossen, war von der Legenda Aurea von Jacobus de Voragine beeinflusst, was vermutlich seine Vorstellungskraft in Sachen Frömmigkeit gesteigert hat. Denn das Buch besteht aus vielen Erzählungen, teilweise Fantasien des Volksmundes, die mit einer gewaltigen Wirkungsmacht nachgebildet sind. Also, unsere Analyse als Betrachter, ist wahrscheinlich das endgültige Fazit Vermeers zum Geschehen der Seele nach dem Tod. Er stellt das Urteil dar, als gäbe es keine Situation zu überwinden, weil das Gute und Schlechte der Existenz in diesem Moment nicht mehr abrufbar ist, um es zu verbessern. Der ruhige Gesichtsausdruck der Frau bestätigt gerade, dass sie entspannt den Augenblick in den Händen festhält.
Dem Künstler war die biblische Botschaft ganz bewusst, dass unser Wesen in diesem Leben jeden Tag durch die Gabe der Frömmigkeit (des Heiligen Geistes), Gott als Vater und Schöpfer erkennen und ihn dementsprechend verehren soll. Diese Vater-Sohn-Beziehung überträgt sich bis zu unseren Mitmenschen, sie sind auch Kinder Gottes und Teil der großen Familie, sodass sie für uns Mitbrüder und Mitschwestern sind und in diesem Sinne müssen wir Rücksicht auf sie nehmen, ein Gemeinschaftsgefühl spüren und uns gegenseitig helfen, um in dieser Zeitspanne des Lebens unter den Augen unseres Schöpfers bessere Menschen zu werden. Matthäus, der Evangelist, berichtet darüber (Mt.25, 31-44), dass Gerechte von Ungerechten getrennt werden und die Ungerechten die ewige Strafe bekommen werden. Genauso beschreibt Johannes in der Offenbarung (Offb. 20, 11-15): „Sie wurden gerichtet, jeder nach seinen Werken“. Vermeers „Frau mit Waage“ widerspiegelt das Gefühl eines Menschen gegenüber seiner Vergangenheit und seiner näheren Zukunft, genau an diesem Wendepunkt werden die Perlen (unsere Taten) gewogen, die Hauptfigur erwartet mit Ausgeglichenheit ihre Weiterfahrt in den Himmel.
Jan Vermeer zeigt in diesen Gemälden eine absolute Beherrschung der Gestaltung, die er in Objekten verkörpert und an die richtige Stelle platziert, so dass wir Betrachter nicht nur die Bilder interpretieren dürfen, sondern auch dabei eine dargestellte Geschichte beobachten können, die durch das Auffinden der geeinten christlichen Symbolkunde und verschiedene Lichtschemata in der Bildszene gelesen werden kann.