Die Katastrophe eines Krieges führt zu vielen Nachfolgen, die von unsinniger Armut über Hass bis hin zu Wohlstand oder Wirtschaftswunder reichen. Jedoch die Jahre an sich, in denen ein Krieg stattfindet, begreift man nicht so wirklich, wenn man sie selbst nicht erlebt hat. So bedeutete für viele Deutsche und Russen der Erste Weltkrieg eklatante Veränderungen; für die Deutschen hießt es das Ende der Kaiserzeiten und für die Russen die gezwungene Abdankung des Zaren und die Russische Revolution vom 1917. Irgendwie spielten sich neben den allbekannten Ereignissen auch andere, unvorstellbare, ab. Hiermit meine ich Tatsachen, die wir uns nicht überlegt haben, auch wenn sie daraus erfolgten. Boris Barnets Film „Die Außenbezirke“ (eigene Interpretation des Titels aus dem Russischen; es gibt keine deutsche Übersetzung. Original: Окраина, 1933) handelt über den Einbruch des Krieges im Jahr 1914, aber auch über das Schicksal deutscher Soldaten, die in Gefangenschaft nach Russland gebracht wurden und Deutschen, die damals aus unbekannten Gründen dort gelebt haben. Mehr oder weniger erinnert es mich an alte Erzählungen meiner Großeltern mit dem Unterschied, dass bei dem Film die fiktiven – oder realen – Figuren eine wichtige Rolle spielen. Nichtsdestoweniger, was Barnet in seinem Film darstellt, geht richtig ans Herz, wenn man sich mit der Materie und deren Konsequenzen befasst hat.
In einem Außenbezirk einer russischen Großstadt leben Menschen völlig friedlich, darunter auch Robert Karlovicz (deutscher Abstammung), sein Nachbar Alexander Petrovicz (russischer Nationalist) und dessen Tochter Anka. Beide alten Männer sitzen häufig vor dem Damebrett und spielen. Währenddessen wohnt in der gleichen Straße Pyotr, dessen Söhne Nikolai und Senka, und andere Dorfbewohner, in seiner Schusterei beschäftigt sind. Als der Krieg ausbricht, streiten sich Alexander und Robert. Letzterer zieht aus dem Dorf aus und gleichzeitig gehen auch Pyotrs Kinder in den Krieg. Eines Tages kommt eine Truppe russischer Soldaten mit deutschen Kriegsgefangenen, die in einer Kaserne im Ort bleiben. In diesem Zusammenhang lernt Soldat Müller-III Alexanders Tochter Anka kennen. Da sie oft deutsch von ihrem Nachbarn Robert Karlovicz gehört hatte, verstand sie alles, was der gefangene Soldat ihr auf der Straße sagte. Das Interessante dabei ist die Wiedergabe des Geschehens aus Barnets Perspektive. Es gab tatsächlich solche Kriegsgefangenen in russischen Gebieten während des Ersten Weltkriegs, allerdings durften sie in den Dörfern nicht arbeiten und waren der Gewalt zaristischer Bürger, Hunger und Trauer ausgesetzt.
Anka und Müller-III trafen sich öfter im Ort, weil er tagsüber bis abends Arbeit suchen durfte, aber kein Glück hatte. Immerhin bot Pyotr ihm Arbeit in seiner Schusterei an, die Monate vorher ohne Arbeiter verblieb, weil alle an die Front gegangen waren. Boris Barnet (1902-1965), der selbst auch in Russland aufgewachsen war, aber englische Vorfahren hatte, verrät uns, wie sich die Atmosphäre eines Dorfes aufgrund des Krieges gewaltig verwandeln kann. Menschen verloren Familienmitglieder oder wussten nicht, ob sie noch am Leben waren. Der Alltag veränderte sich, als würden sie alle auf ein Wunder warten. Jedoch geschah als einziges Ereignis die Verhaftung der Deutschen, anstatt eines Sieges oder der Rückkehr der Truppen. Die Selbstwahrnehmung der Menschen kann das vielfältige Spektrum der Tragödie nicht wirklich erkennen und verwandelt sich in einen angespannten, hilflosen Dunst.
Der Regisseur vertieft sich in die Brutalität des Krieges nicht richtig. Zwar gibt es Szenen, bei denen man sich Gedanken macht, ob sie sich an der Front abgespielt hatten, aber andererseits zeigt er uns die Hoffnung der Bevölkerung, trotz Machtlosigkeit gegenüber eines solchen Unglücks. Das Dorfleben lässt Barnet mit bestimmten Details ablaufen, sodass er zu verstehen gibt, wie wichtig materielle Sachen für die Dorfbewohner waren. Die Ausstattung in den Häusern schien sehr einfach; ein Raum diente als Wohn- und Schlafzimmer, Elektrogeräte waren damals nicht nötig, und der Tod des eigenen Pferdes hätte den Besitzer zum Selbstmord bringen können. Wiederum hatte Alexander Petrovicz eine bessere Möblierung, in dem er über eine Vitrine und einen Flur verfügte. Häuser waren ohnehin aus Holz gebaut, genauso wie die Kaserne, wo sich die deutschen Kriegsgefangenen befanden. Auch wenn die Geschichte an sich und aufgrund der Situationen und Figuren ziemlich abwechslungsreich erscheint, hinterlässt sie im Großen und Ganzen das Gefühl; die Revolution sei eine Art Lösung für die zerstörten Wesen, deren eigene Kinder, wie bei Schuhmacher Pyotr, im Krieg gefallen waren. Eines hatten allerdings alle gemeinsam, und zwar die Verteidigung des Landes gegen die Feinde, koste es was es wolle.
Die Betrachter blicken erstaunt, als die Bolschevisten das Dorf erreichen und dabei erkennt man Müller-III (Hans Klering, deutscher Schauspieler und Mitbegründer der DEFA) und Anka (Yelena Kuzmina, russische Schauspielerin), während des bewaffneten Aufstands, im gleichen Bataillon. Aus dem Letzteren ergibt sich, dass der Soldat nach langen Kämpfen bei seiner Freundin geblieben ist. Jedoch folgt daraus, als seien die Kriegsgefangenen für die Revolution rekrutiert oder freiwillig in den russischen Bürgerkrieg gegangen. Eine nicht ausgeschlossene Mutmaßung gilt für einen Film, aber in Wirklichkeit entnehmen wir das Mysterium weiterer Situationen, wie bspw. die Fahnenflucht deutscher Kriegsmarine der Hochseeflotte, die uns für immer und ewig völlig unbekannt bleiben werden.