Seit einigen Jahren verfolge ich regelmäßig die Spiele der Europa League und Champions League - CL-, je nach Zeit und Aufwand. Auf jeden Fall freue ich mich immer wieder auf spannende Spiele.
Die Rückrunde des Achtelfinales der CL hatte schon an einem Tag zuvor angefangen. Zu meiner großen Freude spielten an diesem 11. März Liverpool gegen Atlético de Madrid. Beim Hinspiel gewann Atlético 1-0 in Madrid. Allerdings muss man darauf hinweisen, dass Liverpool der amtierende Champion ist und Atleticos Leistung in Madrid, trotz Sieg, sehr knapp war. Auf das Rückspiel habe ich lange gewartet aber nicht auf den Anfang einer Quarantäne fast gleichzeitig auf der ganzen Welt. Ich musste an dem Abend noch schwer überlegen, ob ich in meine Lieblingsbar für Fußballfans gehe oder das Spiel zu Hause über Hörfunk-Übertragung per Internet nur höre. Denn es gibt seit ein paar Jahren keine CL Rechte mehr für das öffentliche Fernsehen oder Internet, sondern nur für private Sender. Letztendlich entschied ich mich für die zweite Alternative und während des Tages konnte ich mitbekommen, dass das Parallel-Spiel in Paris ohne Publikum gespielt wird.
Die Chancen des Atletico, in Anfield, das Heimatstadion des Liverpools, gewinnen zu können, waren meiner Meinung nach etwas im Sinne von ein wenig als 50%. Allerdings war da für mich noch ein anderes Gefühl; es war nicht Liverpool gegen Atletico, sondern Jürgen Klopp gegen „Cholo“ Simeone oder in anderen Worten, Deutschland gegen Argentinien. In irgendeiner Form ist die fußballerische Rivalität beider Länder, beider Trainer immer dabei und das wollte ich nicht verpassen. Auch wenn Simeone einer Fußballschule angehört, die eher auf eine starke Abwehr fokussiert ist, hat er aber auch offensive Spieler erster Güte. Simeones Fußball hat irgendwie mit der Literatur zu tun; er wartet hinten, wehrt sich und anschließend kontert er, damit er mit dem Ergebnis leben kann. Dieses Prinzip ist die Grundlage Simeones Fußball. Auch wenn es die Mannschaft öfter Niederlagen gekostet hat, bleibt er bei seiner Substanz. Und an diesem Tag hatte er das Spiel mit Sicherheit nicht anders geplant.
Zwei Stunden zuvor hatte ich noch die große Versuchung in die Bar zu gehen, aber meine Vernunft war stärker als meine Leidenschaft. Einige Minuten später war ich dann tatsächlich vor dem Rechner und konnte die gefühlsbetonte Übertragung eines Radiosenders anhören. Das Spiel war sicherlich für die Reds (Liverpool) relativ bequem. Alle Fans im Stadion auf ihrer Seite, aber vor allem die Gewissheit zu haben, dass sie seit Oktober 2014 in Anfield nicht verloren hatten. Damals kassierten sie eine enttäuschte Niederlage (0-3) gegen Real Madrid. An diesem Abend waren sie sicher, dass sie weiter kommen werden. Ich hatte immer noch das Motto der Mannschaft im Kopf; „Höre niemals auf zu glauben“. Das sind Worte, die sowohl Moral impfen, als auch eine tiefe mystische Motivation erzeugen können. Die fünf Wörter des Mottos dürfte man deutlich auf dem Spielfeld sehen. Die Besatzung des Atleticos ist nicht wie in den goldenen Zeiten, als die Mannschaft zwei Mal das Finale der CL erreichte. Sie haben nun mal Schwierigkeiten an bestimmten Positionen, wo es einfach nicht besser wird, weil die richtigen Spieler fehlen. In den ersten fünfundvierzig Minuten übte Klopp viel Druck auf Simeones Abwehr aus. Daraus machte Torwart Oblak den Unterschied. Später bei der Pressekonferenz sagte Simeone; er habe keinen teuren Spieler im Mittelfeld oder außergewöhnlichen Stürmer, aber dafür habe er Oblak. Der Torwart rettete durch seine zauberhaften Paraden seine Mannschaft. Trotzdem fiel in der dreiundvierzigsten Minute das erste Tor für die Reds.
Es war selbstverständlich, dass die Madrider den Ausgleich in der zweiten Hälfte suchen werden. Allerdings hatten die Liverpooler vermutet, sollten sie es schaffen, würden sie sich wie immer im eigenen Tor verschanzen. Nach der Pause ging es um Leben und Tod für Simeone. In Wirklichkeit spekulierte Klopp überhaupt nicht mit dem Resultat, aber er brauchte noch ein Tor, weil bei dem Hinspiel Atletico auch 1-0 gewann. Und allein aus diesem Grund musste er die Geschwindigkeit und Qualität seiner Spieler weiter beanspruchen. Die „Matratzenmacher“ generierten doch viele Möglichkeiten aber leider ohne Erfolg. Allerdings bis auf einem Schuss von Correa, der Torwart Adrian auf dem Gesicht traf und so seinen Kasten rettete. Das Spiel wurde spannender und in der fünfundsechzigsten Minute köpfte Robertson einen Ball, der die Latte traf. Dabei musste Oblak zusehen, wie der Rückprall von seiner Abwehr geklärt wurde. In der letzten Aktion der regulären Spielzeit (92' Minute) wurde ein Tor von Saul Ñiguez wegen Abseits annulliert.
Wenn das Tor gezählt hätte, wäre es das Ende gewesen, denn nach der neuen Regelung gelten alle Auswärtstore doppelt. Atlético reichte nur ein Unentschieden um weiter zu kommen. Während die Spieler sich für die Verlängerung vorbereiteten, wurde in Paris das Geisterspiel zwischen PSG und Borussia Dortmund abgepfiffen. Das erste Spiel vor leeren Rängen in der Geschichte der Champions League war für die Dortmunder mehr als ein gruseliger Abend. Merkwürdigerweise die ehemalige Mannschaft Klopps.
Simeone hatte schon Llorente auf dem Spielplatz. Der Spieler erinnert uns sehr an „niño“ Torres, der ähnlich gelaufen war und Tore geschossen hatte. Auf jeden Fall gleich nach vier Minuten der ersten Verlängerungszeit sorgte Firmino für das 2-0. Klopp und seine Spieler fühlten sich in irgend einer Form sicher. Simeone wusste, wo die schwachen Punkte der Reds waren und wie sie von Nutzen sind. Deswegen war er nach Firminos Tor ziemlich entspannt. Drei Minuten später lief Llorente vor dem Strafraum von links nach rechts und schoss diagonal schräg und stark. Das war der 2-1 Ausgleich in Punkten aber mit dem Torunterschied (Auswärtstore zählen doppelt). Mit dem Tor von Llorente ginge ja eine perfekte Strategie Simeones Doktrin auf. Jedoch macht der „Cholo“ einen ungewöhnlichen Wechsel; Morata (ab 103') kommt und Joao Felix geht. Spieler Alvaro Morata hatte eine Verletzung und sein Einsatz wäre ein großes Risiko gewesen. Die Entscheidung war aber richtig. Auch wenn Klopp Simeone in die Mangel nahm, wollten die Madrider am anderen Strang ziehen. Trotz Muskelzerrung lief Morata ins Spielfeld ein um den Herzschlag der Mannschaft zu ändern. Denn konnte man bei jeder Minute beobachten, wie die Ausdauer Atleticos gedrosselt war. Den Ball nahm der frisch eingelaufene Madrider, und lief in die gegnerische Hälfte, bediente Marco Llorente links. Dieser machte ein Täuschungsmanöver aber ging schließlich rechts und schoss in die gleiche Ecke wieder. Die Atletico Fans feierten das 2-2, das Tor fiel in der 105' Minute. Mit diesem Ergebnis müssten die Reds in der zweite Hälfte der Verlängerung drei weitere Tore einkasten, um das Spiel in das Elfmeterschießen auszustrecken. Die Situation war nicht einfach aber möglich. Liverpool spielte noch mit einer herausragenden Geschwindigkeit und auf der anderen Seite hatten die Madrider schwere Muskelkrämpfe, sie konnten in den letzten fünfzehn Minuten den Ball sehr mühsam bewegen und waren auf Sparflammenmodus. Sie wehrten sich und was in diesen Minuten passierte, das Ausscheiden der Reds, konnte das Publikum nicht wirklich wahrnehmen. Im Hintergrund besangen Atletico Fans den Sieg lauthals.
Die letzten sieben Minuten hatten dramatische Szenen; Liverpools Spieler hatten zwar noch viel Kraft und Luft aber die Zeit drang. Dagegen sahen die Madrider aus wie verprügelt und wenn sie gefallen waren dauerte es, wahrscheinlich wegen der Krämpfe, bis sie aufstanden. Zwei Minuten vor Ende des Spiels schubste Arnold Morata gewaltig, so dass der spanische Stürmer fast an der Planke des Sicherheitsdienstes landete. Hinterher gingen sie aufeinander los und der niederländische Schiedsrichter Makkelie zeigte beiden die gelbe Karte. Der Makkelie guckte nach der Uhr, denn sechzig Sekunden fehlten noch. Und gerade bei einem Konterangriff bekam Morata den Ball von Llorente und rannte humpelnd Richtung Tor. Liverpools Verteidiger Gomez reagiert zu spät und trotz Bemühung schafft er es nicht, den Angreifer zu stören. Morata lief aus Reflex (120'), denn seine Kräfte hatten ihn schon lange im Stich gelassen, um den Glauben nicht zu verlieren, und schießt mit dem linken Fuß, unten, schräg. Torwart Adrian war mit seinem Fangversuch eine Sekunde zu spät und der Ball kommt ins Tor. Atleticos Morata kniet vor der Tribüne bzw. vor den Fans und widmet denen, die niemals aufgehört haben zu glauben, sein Tor. Die Fassungslosigkeit der gegnerischen Spieler wurde von dem offiziellen Fernsehteam aufgenommen.
Dieses Spiel wird den Fußballfans für immer in Erinnerung bleiben. Simeone und seine Schüler sind im Viertelfinale der Champions League. Mit diesem Sieg warf er nicht nur Klopp, sondern auch den aktuellen CL Meister, der letztes Jahr in der Wanda Metropolitano gekrönt wurde, raus und brach allerdings auch damit eine Reihe von 26 unbesiegten Spielen, 5 Jahre und viereinhalb Monate, des Liverpools im Heimatstadion Anfield. Aber gleichzeitig ist dieses Fußballspiel auch bedauerlich wichtig, weil es das letzte Spiel mit Publikum – auf Grund der Pandemie - nicht nur in der Champions League sondern auch in Europa (und wahrscheinlich auf der ganzen Welt) in diesem Jahr war. Glücklich diejenigen, die dort anwesend waren, denn bis wir ein volles Stadium wieder bewundern, wird es noch eine lange Weile dauern.