Stoff kann vieles bedeuten: Zum einen das textile Material, aus dem Kleidung, Tischdecken, Vorhänge und ähnliches hergestellt wird. Zum anderen eine haptische Gegenständlichkeit, die man erfassen kann oder als Inhalt einer narrativen Struktur, die man zu begreifen versucht. Wenn eine Ausstellung "Stoff" heißt, dann darf der Betrachter davon ausgehen, dass die Künstlerin auf der Klaviatur der Ambivalenzen spielt. Es gibt bei Johanna Kandl in dieser Ausstellung eine Arbeit, die den Begriff wörtlich nimmt und verschiedenfarbige, in Falten geworfene Tücher in einem Stoffgeschäft zeigt.
Doch im Wesentlichen geht es sowohl bei Kandl wie auch bei der Film- und Videokünstlerin Anna Witt um den Stoff, aus dem die Leiden sind. Und zwar ganz konkret jene Leiden, die eine globalisierte und prekarisierte Arbeitswelt mit sich bringt. In den Werken wird mit den jeweils eigenen Gestaltungsmitteln eine politische Agenda künstlerisch aufgeworfen, die sich für jene interessiert, die nicht zählen. Oder wie es Aristoteles einmal formuliert hat: Die "Anteil haben an nichts.“
Johanna Kandl thematisiert latente und manifeste Widersprüchlichkeiten in zeitgenössischen Produktions- und Distributionsprozessen mit ihren zum Programm gewordenen Bild-TextVignetten, deren visuelle Vorlagen in Fotos wurzeln, die bei Reisen in den unterschiedlichsten Weltregionen und politischen Milieus entstanden sind. Diese Materialien werden aber nicht hyperrealistisch in Malerei transponiert, sondern hauptsächlich mit Temperafarben zu sehr fein graduierten koloristischen Spektakeln, bei denen oft die Mittagshitze südlicher Länder mitzuzittern scheint.
Personen werden oft nicht individualisiert, sondern scheinen zu Chiffren zu gerinnen, die Lasten tragen und ganz offensichtlich am unteren Ende der Nahrungskette ihr Überleben sicherstellen müssen. Wenn dann im ärmlichen Sektor einer georgischen Stadt Slogans wie "Go" oder "Get Rich" eingeblendet werden, wirft dies ein grelles Schlaglicht auf die Unrechtsverhältnisse der Gegenwart. Es geht um das Aufzeigen des "Anteils der Anteilslosen“.
Die 3-Kanal-Installation "Unboxing the Future" (2019) von Anna Witt zeigt eine weitreichende Fragestellung: Wie beeinflussen künstliche Intelligenz und Automatisierung die Arbeitssituation in einer industriellen Metropole wie Toyota City und was sind ihre Auswirkungen auf das menschliche Wesen? Für diese Videoarbeit extrahierten Arbeiter Bewegungen aus ihrer täglichen Routine und transformierten sie in eine kollektive Choreographie. So entstand ein fast Zen-artiges kinetisches Ballett der Bewegungen zu zarten Koto-Klängen, das bei aller Schönheit nie vergessen lässt, dass es einer fordistischen Zurichtung und Reduktion der menschlichen Möglichkeiten abgezweckt wurde. Es geht bei beiden Künstlerinnen, wenn man es auf eine Formel bringen möchte, um das Aufzeigen des "Anteils der Anteilslosen."
(Thomas Miessgang, Wien 2019)