Das Ende des Kalten Krieges hat nicht nur die bipolare Weltordnung verschwinden lassen. Auch Gewissheiten und Verbindlichkeiten sind seither kleiner geworden oder ganz verschwunden. Die Verbindlichkeit intersubjektiven Wissens parzelliert sich inzwischen in unzählige voluntaristische Wissenswelten, die miteinander konkurrieren. Pandemie, Terror und Krieg, Klimawandel und Künstliche Intelligenz haben die neue Unübersichtlichkeit und Unsicherheit weiter verstärkt. Das Post-Faktische und die zunehmende Virtualisierung der Lebenswelten verlangen deshalb immer dringlicher nach der Frage, welche Rolle Wahrnehmung und Wissen für das Verständnis der Welt, d.h. für die Konstruktion von Wirklichkeit, heute spielen.
Perspektivische Ratlosigkeit lässt sich auch in der Kunst der vergangenen drei Jahrzehnte beobachten. Dokumentarische Ansätze, Erstellen und Auswerten von Archiven, soziales und politisches Engagement bei identitätspolitischen Fragen – diese und ähnliche Verfahren prägen weite Teile der heutigen künstlerischen Produktion. Sie alle verbindet offensichtlich die Überzeugung, dass Erwerb, Besitz und Verbreitung von Wissen von vorrangiger Bedeutung sind. Die Untersuchung der Bedingungen und Strukturen von Wahrnehmung und ihrer Rolle für Erkenntnis, mithin das Hinterfragen von Wissen, scheint dagegen zweitrangig zu sein. Diese «Aisthesis», altgriechisch für Sinneswahrnehmung, war bereits in der Philosophie der Antike ein häufig diskutierter Begriff. Bei aller rationalen, metaphysischen oder eschatologischen Dimension ihrer Deutung wurde sie stets als eine der Quellen für die Generierung von Welt-Wissen verstanden, zu dem sich das intellektuell erworbene Wissen komplementär verhält. Die Erfahrung der Welt durch die Sinne war stets eine Grundlage künstlerischer Reflektion und Produktion, denn anders als abstraktes Denken kann die «Aisthesis» mit ihren synästhetischen Qualitäten zu Erkenntnissen führen, die rational (noch?) nicht zugänglich sind.
Die Frage «Was will ich wissen?» zielt in erster Linie auf Erkenntnis als Ergebnis von Wahrnehmung. Sie erfordert selbstreflexives Verhalten, etwa durch Fragen wie: Mit welchen Methoden gelange ich zu Erkenntnis? Ist sichere Erkenntnis überhaupt möglich? Was sind Wahrheit und Wirklichkeit? Produktiver Zweifel, Neugier, Experimentierfreude und zugleich Verortung im Kontext von Wahrheit und Wirklichkeit sind die sie treibenden Kräfte. Die künstlerischen Positionen in dieser Ausstellung verbindet, dass sie sich mit dem Wechselspiel von Wissen und Wahrnehmung auseinandersetzen, der «Aisthesis» als Quelle von Wahrnehmung und Erkenntnis als Weg zu Wissen. Einerseits zeigt sich in ihren Strategien eine methodische Nähe zu wissenschaftlicher Erkenntnistheorie, andererseits untersuchen die Künstlerinnen und Künstler auf experimentelle Weise die Erkenntnis- und Metaphorik-Potentiale von Material und Prozess für das Erzeugen von Bildern. Dabei liefern sie – und dies ist eine fundamentale Kraft der Kunst – keine Antworten auf Fragen. Vielmehr sind ihre Experimente und deren Produkte Anlass zu weiteren Experimenten, zu weiteren Fragen. Fragen nach der Verbindlichkeit von Wissen, Fragen an das Erkenntnispotential von Wahrnehmung, Fragen an die Sinne und die Funktion des Denkens, Fragen schliesslich auch an die Erkenntnispotentiale von Kunst.
Lia Perjovschi (1961) hat 2024 ein Diagramm zum Verhältnis von Wissen und Wahrnehmung erstellt. Seit 1999 entstehen diese Diagramme, in denen die Künstlerin von ihr ausgewählte Zitate, Begriffe, Fragen und Definitionen zusammenträgt und in einer Art «Mind Map» sternförmig um das jeweilige thematische Zentrum herum strukturiert. Bewusst verzichtet sie dabei auf Cluster und/oder Hierarchien. *Knowledge and perception steht in einer deduktiven thematischen Linie ihres Oeuvres, die mit der (performativen) Untersuchung physischer und psychischer Dimensionen des menschlichen Körpers beginnt (Hands, 1993, Video) und sich in Diagrammen wie subject/ID (1999-2006) und Info age (2020) fortsetzt. Perjovschis Diagramme bilden, zusammen mit weiteren gesammelten, ausgewählten und archivierten Informationen, den Wissens-Bestand des «Knowledge Museum», das sie in physischer Form in ihrem Atelier in Sibiu zugänglich gemacht hat. Sie versteht dies als Plattform «ausgewählten» Wissens, um zum Austausch von Ideen, zu Diskussionen und weiterführenden Auseinandersetzungen anzuregen.
Die Komplexität der menschlichen Natur und die Verortung der Kunst sind die zentralen Themen Thomas Lehnerer's(1955-1995). Sowohl intellektuell als auch bildkünstlerisch hat er sie verfolgt. So hat er u.a. in seiner Schrift Methode der Kunst (1994) eine eigene Kunsttheorie entwickelt, die als Versuch gelesen werden kann, dem wachsenden künstlerischen Anything goes der Nach-Moderne in den 1980er Jahren einen Boden der Verbindlichkeit durch den zentralen Begriff des «freien Spiels» innerhalb eines jeden Ordnungsrahmens einzuziehen. In seinen Einzelzeichnungen und Zeichnungsgruppen sowie in seinen Plastiken spürt er diesen Spielräumen nach, u.a. durch das Zusammenstellen von Zeichnungsgruppen zu den vier Grundfragen der Philosophie von Immanuel Kant (Belgrad-Projekt, 1988) oder der Visualisierung des Prozesses der Entstehung von künstlerischen Gedanken (Denken in der Kunst, 1987). Kleine Methode von 1989 wiederum visualisiert die verschiedenen prinzipiellen Modi plastischen Gestaltens.
Tomas Schmit (1943-2006) widmete sich, nach anfänglichen Aktionen in den 1960er Jahren im Rahmen von Fluxus, dem grossen Projekt «einer zentralen ästhetik», wie es im Titel seines Buches «erster entwurf» (1989) heisst. Dieses Buch stellt eine vorbildliche Einführung in die physiologischen und psychologischen Bedingungen der Sinneswahrnehmungen dar. Ausserdem visualisiert er in zahllosen Zeichnungen seine Beobachtungen und Überlegungen zum Funktionieren von Wahrnehmung und zur Entwicklung von «Bewusstsein». Dabei macht er mit viel Sinn für Humor immer wieder die Konvention scheinbar festgefügter Logiken deutlich, z.B. sprachlicher Festlegungen, die nicht selten mit dem von ihnen bezeichneten Inhalt verwechselt werden (eine kalbe scheibsleber bitte, 1994). Und er zeigt die Arbitrarität des Zusammenhangs von Wahrnehmung und Bewusstsein auf (das höhlengleichnis,1994). Immer wieder analysiert er zudem spielerisch und mit Sympathie für innere Widersprüche die Grenzen und Sinnhaftigkeit utopischer Ideen (die quadratur des kreises, 1972; small utopiana, 1978).
Thom Barth (*1951) teilt mit vielen seiner Generation die Einstellung, dass die Welt, in der wir leben, immer mehr von Bildern, Vorstellungen und Gedanken zweiten, dritten usw. Grades geprägt ist, dass ihre Erscheinung hinter ihre Abbildungen zurücktritt. Dieser sich zunehmend mediatisierenden Wirklichkeit stellt er in seiner künstlerischen Arbeit Fragen nach ihrer Verortung. Wichtigstes Mittel dafür ist transparente Folie, als vorgefundener Druckfilm mit bestehenden Bildern und/oder Bildfragmenten oder als selbst gefertigte Fotokopien. Diesen Bildern eignen stets Flüchtigkeit und Vorläufigkeit, die den auf ihnen gezeigten Motiven keine materielle Eigenschaft zumessen, sie vielmehr geisterhaft erscheinen lassen. Die Kombination mit der Semantik der materiellen Basis von Bildträgern wie etwa Fensterrahmen verstärkt diese Wirkung noch («window», 1994, «topview», 1995). In weiteren Werkgruppen vergrössert Barth in zahllosen Arbeitsgängen ein Ausgangsmotiv bis zur Unkenntlichkeit. Paradoxerweise entstehen durch weitere Vergrösserungen neue Bildmotive, die keinen inhaltlichen oder formalen Bezug zum Ausgangsbild mehr haben: es entstehen neue Bildwelten, die Anlass zu weiterer Bearbeitung geben, etwa durch Malerei wie in der Gruppe «x-grau» von 1999.
Methodisch vergleichbar ist die künstlerische Arbeit von Magda Csutak (1945), jedoch mit einem der Systematik naturwissenschaftlicher Methoden zuneigenden Schwerpunkt. Ihr zentrales Interesse gilt der Bild-Abbild-Problematik und der Rolle, die die Materialien dabei spielen (Still Leben X-5L, 1995; *Ich fange das Licht, es wird schwarz, 1997-98). Diese ist für Csutak wesentlich medialer, d.h. kommunikativer Natur. Ihre Einzelwerke und Werkgruppen sind stets Experimente der Zusammenführung und Gegenüberstellung von Materialien und deren visuellen Wirkungen auf der Basis zugrunde liegender Fragestellungen, die mathematischer, sprachlicher oder auch chemisch-physikalischer Natur sein können. Ihre Bildfindungen weisen daher einen wesentlich aufklärerischen Impuls auf, der die konventionellen Grenzen des allgemeinen Verständnisses von Materie, Form, Prozess und Wirkung thematisiert. CSUTAKs Arbeit ist daher auch als Versuch zu verstehen, den Materialien und ihren Eigenschaften deren Metaphorik für das Verständnis der Welt zu entlocken (Die Annäherung an die Null, 2002).
Edith Dekyndt (1960) beschäftigt sich mit sozio-kulturellen und gesellschaftspolitischen Fragen und verschränkt diese immer wieder mit der Visualisierung physikalischer und chemischer Prozesse und Phänomene, die sich in unserem Alltag vollziehen, ohne dass wir ihnen Aufmerksamkeit schenken. In *Underground 05 (Tournai), 2017, hat sie einen Teil einer Stoffbahn im Boden vergraben und dort über Monate belassen. Im Ergebnis ist diesem Teil der Stoffbahn die Arbeit des Verrottungsprozesses anzusehen, im Kontrast zu ihrem unversehrten Rest. In einer neuen Werkgruppe hat sie mit Mais gearbeitet, als Ausgangsmaterial für das 3D-Überdrucken eines Teils einer gefundenen Astgabel (Billy Jack, 2024) oder als Struktur- und Farbbasis für eine kleinformatige Wandarbeit mit sehr malerischer Wirkung (La Vallée – Yellow, 2023). In diesen Werken macht sie die Wirkung von Zeit sowie Prozesse von Veränderung und Zerfall ablesbar und überführt damit traditionelle formale Anliegen künstlerischer Arbeit in die Sphäre der «natürlichen» Wirklichkeit. Die Konsequenzen sind erheblich: Wissen, Wahrnehmung und Realität werden auf sehr konkrete Weise thematisiert und zugleich in Frage gestellt.
Mircea Nicolae (1980-2020) beschäftigen in der Werkgruppe Prostheses, 2010-14, ebenfalls Materialien aus der Natur, doch liegt sein Fokus auf deren Gestalt und Subjektivität. In einem psychologisierenden Verfahren verfolgt er deren Heilung mittels ihrer Ergänzung durch ein für jedes Objekt entworfenes und aus künstlichen Materialien gefertigtes Pendant (Prosthesis for a dry plant, Prosthesis for a broken stone). Dieses «therapeutische» Verfahren ist zugleich Hinweis auf die Bedeutung von Form und Farbe für die visuelle Erscheinung eines Objekts. Auch das später realisierte Projekt Pretext for a Morandi, 2016-17, folgt dieser thematischen Linie. Nicolae stellte mit im öffentlichen Raum gesammelten Objekten ein Arrangement her, das Vorbild für ein Gemälde des italienischen Malers Giorgio Morandi (1890-1964) sein könnte. Anschliessend fertigte Nicolae von seinem eigenen Arrangement zwei Gemälde im Stil Morandis an. Den Mythos von der Aufdeckung der «Magie» der Dinge in der Malerei Morandis führt er durch seine Arbeit auf den Boden der Tatsachen zurück und macht die Mechanismen der Wahrnehmung und ihrer Bedeutung für das Entstehen von Erkenntnis und Wissen transparent.
(Text von Friedemann Malsch)