Zuerst ist da nur Schwarz. Aber das ist schon das Bild. Dann wird es in Luke Willis Thompsons neuem 35-mm-Stummfilm mit dem Titel _Human nach wenigen Sekunden bereits wieder unterbrochen. Es folgt eine seltsame, leuchtende Erscheinung – eine Art Gipfel vielleicht? – die nur flüchtig auftaucht.
Dann wieder Schwarz, bis ein langsamer Kameraschwenk in Nahaufnahme ein nervöses Durcheinander von Linien und Markierungen enthüllt, das wie eine spröde, trockene Ober- fläche aussieht. Die Linien bilden kein Raster, nichts Schematisches. Es könnte eine öde, von einem Satelliten aufgenommene Landschaft sein oder ein Stück verkohltes Pauspapier. Dass es sich um eine Nahaufnahme von Haut handelt – mit ihren Verwerfungen an Falten, MelaninAblagerungen und Poren – ist nicht offen- sichtlich. Dann blitzt bläulich eine ätherische, hautartige Verbindung aus Form und Textur auf. Kaum ist dieses Bild vorüber, erscheint eine weitere Nahaufnahme, so als würde die Kamera voyeuristisch in eine Öffnung spähen und dort dünne, gekreuzte Metallstäbe entdecken.
Ein X. Die Stäbe sind Stecknadeln, wie sie zum lockeren Feststecken von Stoff verwendet werden, hier aber wirken sie monumental, sogar strukturell tragend. Die Metallstifte glänzen im Licht, obwohl Staub unbekannter Herkunft auf ihnen ruht (hat die Wissenschaft nicht festgestellt, dass „Hausstaub“ vor allem aus abgestossenen Hautpartikeln besteht?). Von langsam pulsie- rendem Licht sichtbar gemacht, taucht das zentrale Objekt immer wieder aus dem tinten- schwarzen Dunkel auf, nur um gleich wieder darin zu versinken. Die Kamera kreist unter einer winzigen Architektur und filmt sie so, dass sie gewaltig und überlebensgross erscheint. Aber es ist nicht wirklich möglich, zweifelsfrei festzustellen, was man sieht. Das Objekt ist Abstraktion und Beweismaterial zugleich – derart nah aufgenommen, dass es weder ein- deutig erkennbar, noch benennbar ist. Wie viele von Thompsons Arbeiten ist auch _Human ein Destillat. Es ist das Produkt einer engen Verflechtung von persönlichen und universellen Geschichten und abwechselnd mal aufwendiges Dokument, hingebungsvolle Hommage, kunstgeschichtliche Wiederbelebung, Porträt, Selbstbildnis oder beissendes Manifest. Um darüber zu sprechen, muss man zuerst über den 1961 in Birmingham geborenen britischen Künstler Donald Rodney sprechen, dem jüngsten von zwölf Kindern jamaikanischer Eltern der sogenannten „Windrush“-Generation.
Rodney starb 36-jährig im März 1998 an den Folgen einer Sichelzellenanämie, einer erblichen Blutkrankheit, die überwiegend Menschen afrikanischer Herkunft trifft (die ursprüngliche Funktion des Gens ist die Abwehr von Malaria). Der verstorbene Künstler setzte in seinem künstlerischen Werk seinen eigenen Körper als Zeugnis und Metapher ein, als ein Dokument des Rassismus, der Polizeigewalt und über Traumata, das sowohl historisch als auch wort- wörtlich immer wieder neu beschrieben wurde. Rodney gehörte zu einer Generation von Künstlerinnen und Künstlern, die in Grossbritannien zu einem neuen schwarzen Selbstbewusstsein beitrugen, das die britische Kunstlandschaft unwiderruflich verändern sollte. Sein wohl emblematischstes Werk, In the House of My Father (1997), ist eine Fotografie, die Rodney während einem seiner häufigen Krankenhausaufenthalten machte, die den Operationen folgten, welche Schmerzen lindern und das genetisch bedingte Todesurteil hinauszögern sollten.
Auf dem Bild sieht man die Nahaufnahme von Rodneys Hand, in der sich die winzige Skulptur eines Hauses befindet. Sie wurde zuvor hergestellt und trägt den Titel My Mother, My Father, My Sister, My Brother (1997). Die Skulptur ist nur ein paar Zentimeter gross und aus der Haut des Künstlers gefertigt, von Stecknadeln und Klebeband zusammenge- halten. Das Objekt, bedeutungsschwanger und voller Leiden, ist so fragil, dass es fast nur durch seine fotografische Abbildung zugäng- lich ist. Es bildet die Grundlage für Thompsons Film, der zugleich eine Geste der Interpre- tation und der Aneignung ist sowie ein Versuch, die in Rodneys Kunst artikulierten Anliegen zu reaktivieren, die bis heute aktuell sind.
Heute, zwanzig Jahre später, zeigt _Human das Haus, das Rodney aus seiner Epidermis, aus seiner schwarzen Haut gemacht hat. Frantz Fanon, Psychiater und Vordenker der Entkolonialisierung, stellte fest, dass die Geschichte des Rassismus nicht trennbar ist von einem „epidermischen Rassenschema“, wie er es bezeichnete. Die Künstlerin Adrian Piper nennt es „visuelle Pathologie“. Beide verstehen, dass das Konzept von „weisser Überlegenheit“ durch den rassistischen Blick auf die Haut konstruiert wird. Rodney wusste (sein ganzes Werk belegt das), dass es eine Fallgrube ist, Menschen als schwarz oder weiss zu sehen, und diese Falle befindet sich genau an dieser körperlichen, epidermalen Grenze zwischen dem Selbst und der Welt, aus deren Material er ein Haus gestaltete.
Indem Rodney seine eigene Haut, jene Oberfläche für bigotte Projektionen, in eine Metapher für Verlust, Erinnerung, Liebe und Heimat verwandelte, fordert er ein Denken ein, welches das Epidermale einerseits anklagt und andererseits weit darüber hinausreichen soll. Nach etwa drei Filmminuten weicht die schein- bare Abstraktion einem seltsamen Wechsel der Perspektive. Mit den charakteristischen Bewegungen automatisierter Überwachungs- aufnahmen, von oben herab aufgenommen, fängt der Kamerablick die nun deutlich werden- de zarte Struktur eines Hauses ein. Die Kamera fokussiert mechanisch und kreist um eine rudimentäre Architektur, an deren Seite Hautreste liegen (vom Nachlass sorgfältig für mögliche zukünftige Reparaturen an der Skulptur aufbewahrt). Diese und weitere Film- sequenzen scheinen einer anderen, nicht unbedingt von ästhetischen oder formalen Fragen bestimmten Logik zu folgen. Stattdessen wirken sie von einem Konzeptualismus ange- trieben, der durch Filmschnitt und Blickwechsel Rodneys Biographie mit Thompsons eigener und Rodneys kritische Anmerkungen von damals mit den gegenwärtigen von Thompson zusam- menbringt.
In unterschiedlichen Momenten im Film dient Rodneys Haus als vorausdeutendes Symbol für Orte zeitgenössischer Gewalttaten, wie etwa für den Grenfell Turm in London, ein Wohnungsbauprojekt für Haushalte mit niedrigem Einkommen, das von der Feuersbrunst offizieller Vernachlässigung verzehrt wurde, oder für das Haus von Stephon Clarks Grossmutter in Sacramento, auf dessen Veranda er von der Polizei erschossen wurde. Bilder dieser Orte wurden von Hubschraubern aus aufgenommen und zeigen die architek- tonischen Strukturen dieser Orte genauso, wie Rodneys Haus aus Haut im Film präsentiert wird. Die automatisierten Bewegungen von Thompsons Kamera versuchen diese (viral gewordenen) Überwachungsbilder jüngster Gewaltszenen durch die genaue Rekonstruktion ihrer Blickwickel und Nahaufnahmen zu reproduzieren.
Thompsons exakte Beschäftigung mit gegen- wärtigem Unrecht hat zu einem Film geführt, der nicht nur von kollektivem sondern auch von persönlichem Trauma geprägt ist. Für den Filmschnitt verwendete Thompson Datenwerte, die sich auf die Huntington-Krankheit beziehen und wie sie in den Zellen seiner Geschwister vorkommen. Die Huntington-Krankheit ist eine genetische Störung, die sich grundlegend von Rodneys unterscheidet, aber ebenso vererbbar ist. Die Tatsache, dass bei den Geschwistern von Thompson die Genstörung festgestellt wurde, legt nahe, dass auch der Künstler sie wahr- scheinlich haben wird. Aber da er zusehen wird, wie seine Familie an der Krankheit leidet, „lebt“ beziehungsweise „stirbt“ auch er mit der Krankheit.
In vielerlei Hinsicht sind die HuntingtonKrankheit und die Sichelzellenanämie polare Gegensätze. Wenn die Sichelzellenanämie, um den Soziologen Stuart Hall zu zitieren, eine „emblematisch schwarze Krankheit“ ist, so ist die Huntington-Krankheit eine weisse, worunter hauptsächlich Menschen europäischer Abstammung leiden (falls Thompson betrof- fen wäre, dann läge es mehr an den Genen seiner neuseeländischen, weissen (Pākehā) Mutter und weniger an denen seines fidschianischen Vaters). Die Investitionen in die HuntingtonForschung übersteigen weit jene für die Sichelzellenanämie; eine Priorisierung, die deutlich an rassistische Denkweisen und im erweiterten Sinne damit an die gesellschaftliche Verteilung von Leben und Tod gebunden ist. Im Zusammenhang mit der Huntington-Krank- heit ist Wiederholung von Bedeutung, weil ein Wiederholungswert von höher als 36 des als CAG bekannten Basentripletts in einem be- stimmten Gen (genannt HTT_HUMAN) gewis- sermassen die (verkürzte) Lebenserwartung angibt. Thompson verwendet die Zahl 42, den CAG-Wiederholungswert seiner Geschwister, und weitere medizinische Daten als eine Art Codierung oder Struktur für den Film. Am deutlichsten erkennbar an den 42 unterschied- lich langen Sequenzen des Filmes. Bewusst stellt Thompsons Film diese Krankheiten in Beziehung zueinander und bringt dadurch zwei Lebenserfahrungen zusammen, die ausser ihrem frühzeitigen fatalen Ende wenig gemein- sam haben. Diese Form der Solidarität ist jedoch ein subversives Vorgehen, welches im Werk beider Künstler vorkommt. Rodneys Arbeit zeigt einen spezifischen konzeptuellen Ansatz, der auch bei Thompson zu beobachten ist: Die Identifikation mit dem Schmerz anderer, welcher den eigenen neu betrachten lässt. So könnte man in den vielen Selbstporträts Rodneys als Polizeiopfer konzeptionelle Vor- läufer von Thompsons Autoporträts sehen. Wenn systemischer Rassismus als roter Faden durch Thompsons Performances, Skulp- turen und Filme führt, dann gilt das auch für das Thema Vermächtnis. Deutlich erkennbar bei seiner Performance, bei der dem Publi- kum Zugang zum Haus seiner generationen- übergreifenden Familie gewährt wurde (inthisholeonthisislandwhereiam, 2012/14) oder bei seiner erweiterten Aktion, deren Fokus auf den Grabsteinen von anonymen Einwande- rerinnen und Einwanderern, Arbeiterinnen und Arbeitern lag, die abgelegen in Fidschi be- graben sind. Thompson wurde zu deren legitimem Betreuer, reinigte sie und kümmerte sich um sie, wenn Regierungsstellen dies nicht taten (Sucu Mate / Born Dead, 2016).
Zudem gibt es die Filme von Thompson, in denen die Nachfahren von durch Polizeigewalt getöteten Frauen gezeigt werden (Cemetery of Uniforms and Liveries, 2016). Vermächtnisse sind in _Human also sehr präsent, nicht nur genetisch oder künstlerisch, sondern auch in der Weise, wie das zeitgenössische westliche „Kolonialerbe“ weiterhin unsere Gegenwart beeinflusst.
_Human ist der Titel des Filmes sowie dieser ersten Ausstellung, die ihn zeigt. Wie bei allen nüchternen und genauen Präsentationen von Thompson besitzt auch diese Ausstellung kleine Details, die voller Bedeutung sind. Nach Anweisung des Künstlers wurden im Trep- penhaus der Kunsthalle Basel die Fenster abge- deckt und das dortige, grosse Gemälde verhüllt. Thompson wollte damit bewirken, dass der Raum „seinen Atem anhält“. Über einen Raum so zu denken, als ob er lebendig wäre, hat dazu geführt, dass einige der letzten Worte von Donald Rodney – „Ich kann nicht atmen“ – Details der Ausstellung mitbestimmen. „Ich kann nicht atmen“ waren auch die letzten Worte von Eric Garner, welche er – unbewaffnet, schwarz, 2014 im Würgegriff der Polizei auf dem Bürgersteig im Stadtteil Staten Island von New York liegend – elf Mal aussprach, bevor er starb. Dass dieser Satz, welcher zu einem Schlachtruf für die „Black Lives Matter“-Bewegung und einer Metapher für Unterdrückung wurde, Thompson in den Sinn kommt, sollte nicht überraschen. So steht doch im Zentrum des Projektes der Versuch, eine Arbeit seiner Zeit sowie über seine Zeit zu schaffen, welche zugleich zurückblickt und nach vorne, über den Tod des Autors hinaus. Laut Thompson ist für ihn das Vermächtnis von Rodneys My Mother, My Father, My Sister, My Brother stets zu versuchen, sich etwas vorzustellen, das nicht in der ungerechten Gegenwart verharrt, son- dern über das Ende dieser hinweg weiter existiert. Luke Willis Thompson wurde 1988 in Auckland, Neuseeland, geboren; er lebt und arbeitet in Auckland und London.