Vielleicht zunächst nicht wahrnehmbar, aber die Lichtstimmung im Raum, ein kaltes Weiss, ist anders, künstlicher. Es herrscht eine entfremdete, aufgeladene Stimmung in diesem Raum, wo eine Stimme das Publikum anzusprechen scheint. Schnell wird deutlich, dass diese Stimme – abwechselnd fragend und klagend – die bewegten Bilder von Shahryar Nashats Image Is an Orphan begleitet und nur im Gespräch mit sich selbst ist. Das Publikum wird gar nicht direkt angesprochen. Stattdessen trägt die Stimme, die dem Video unterlegt ist, einen rivalisierenden Monolog vor. Einerseits ist es das Bild selbst, das rau und lebensmüde klingend zum Körper spricht, der andererseits mit fast filmischer Klangfarbe in der Stimme darauf reagiert. «Wie werde ich sterben? Wer wird mich tragen? Wer wird meine Nachwirkung spüren?» so fragt der Körper flehend (aber es könnte genauso gut auch das Bild sprechen).
Sowohl von menschlichen als auch von techni- schen Belangen sprechend, ist dieses Verwechslungsspiel von Körper (ein Wesen aus «Wasser und Zellen») und Bild (ein Konstrukt aus Bildpunkten, bestehend aus blossen «Nullen und Einsen») typisch für das umfang- reiche Projekt des Schweizer Künstlers. Mittels Bildhauerei, Fotografie, Installation und bewegtem Bild untersuchte Nashats Werk in den letzten Jahrzehnten beharrlich, wie der menschliche Körper begehrt und aufzeigt, wonach er sich sehnt und worin er sich verliert. In der Tat sind die Lebhaftigkeit des Körpers, seine Sinnlichkeit, Verwundbarkeit, Zufälligkeit und seine letztendliche Sterblichkeit genauso wie seine technologische Ver- mittelbarkeit – fotografisch, digital, mit Pro- thesen oder gar pornografisch – zentral für viele von Nashats Arbeiten. Seine Ausstellung The Cold Horizontals, die ausschliesslich neu geschaffene Werke umfasst, bildet dabei keine Ausnahme.
Im Zentrum steht sein achtzehnminütiges Werk Image Is an Orphan, in dem der Kamerablick auf einer geheimnisvollen, zitternden Fläche ruht, die feinaderig und glänzend wirkt. Abge- bildet ist die Simulation der Bildschaffung auf der menschlichen Netzhaut, wo die Schnitt- stelle zwischen Auge und Gehirn sichtbar wird. Jene neurologische Stelle, an der das visuelle Erkennen stattfindet. Es ist die entschei- dende Stelle für das Erscheinen eines Bildes – irgendeines Bildes – im menschlichen Verstand überhaupt. Aber bevor man dieses bildgebende Detail des menschlichen Auges entschlüs- selt hat, zeigt das Video bereits wieder unruhig zusammengeschnittene, sich wiederholende schwarz-weisse Filmausschnitte aus dem Internet, die Körper in schmerzhaften Unfällen zeigen: Hinunterstürzende, in Ohnmacht fallende Körper oder solche, die in Wände, auf Schienen oder andere harte Objekte krachen, welche härter sind als die Körper, die darauf abprallen. Beim Ansehen des Aufpralls muss man ständig den Impuls, zusammen zu zucken und wegzusehen, unterdrücken.
Image Is an Orphan, Nashats düster wirkende Arbeit, wird auf acht Monitoren gezeigt, deren Funktionalität unverhüllt ist und das gezeigte Bild mit Absicht keine flackernde, immateri- elle Projektion von Licht und Staub, sondern eindeutig materiell ist. Das Video verbindet technisch-medizinische Bilder mit beiläufigen Amateuraufnahmen, ebenso wie es die bereits erwähnte Stimme, die dem Film unterlegt ist, mit fast so etwas wie einer Filmmusik zusammen bringt (gegen deren subtile, emotionale Manipulation man sich fast nicht wehren kann).
In seinem gesamten Schaffen hat sich Nashat stets mit der Kunst von Anderen beschäftigt und diese auf eine Art eingebunden, die man als filmische Gastauftritte bezeichnen könnte. Hier mag man eine Anspielung auf Felix Gonzalez-Torres’ Bild eines leeren, ungemach- ten Bettes, “Untitled” von 1991, erkennen oder auf Andy Warhols Electric Chair von 1964, das auf einem Pressebild von einem elektrischen Stuhl in einem Hinrichtungsraum basiert. Beide Kunstwerke thematisieren Räume, in denen der Körper zwar abwesend, aber impliziert ist. «Tote Körper» sagen diese Werke, ohne über- haupt etwas zu sagen. «Tote Körper» sagt auch die Stimme im Film immer wieder und wieder, jeweils in Bezug auf weitere, andere Bilder.
Ein Ensemble von drei farbigen Skulpturen begleitet den Film. Sie treten als unheimliche Interpretation des Minimalismus in Erschei- nung und wirken ein wenig eingefallen und beschädigt (durch Bissspuren oder durch die Enthüllung ihrer «Muskeln», wie der Künstler die nervös-glänzenden Ecken nennt). Die Werke Cold Horizontal (IMAGE) und Cold Horizontal (BODY) liegen auf in Folie eingewi- ckelten Füssen, was ihre Horizontalität betont. Es wirkt, als ob die Zwillingselemente nur auf ihre Obduktion warten würden, währenddessen Cold Horizontal (GHOST) im hinteren Raum, abgestützt von Metallklammern, in Seitenlage ruht. Wie Constantin Brâncuși vor ihm, eliminiert auch Nashat die starre Trennung zwischen Skulptur und Trä- ger und Klammern oder Standelemente werden integrale Bestandteile der Arbeit selbst.
Die Techniken, die Nashat zur Entstehung seiner Werke heranzieht, sind von signifikanter Bedeutung. Der indexikalische Charakter seiner gegossenen und reproduzierten Formen ist deutlich erkennbar bei seinen Skulpturen, insbesondere bei der Wandarbeit Yea High ( for Hunter’s Right Shoulder), welche den ver- schwitzen Abdruck einer Schulter enthält, die sich ins weiche Gipsmaterial lehnte. Bei After-Effects of the Tear (RAW IMAGE) benutzt Nashat ein neues UV-Druckverfahren, welches das fotografische Bild eines Gesichts, auf dem eine Träne herabrinnt, auf der Oberfläche einer Gipsträgerplatte bindet und versiegelt. Die Fotografie selbst wird skulptural und auf ähnliche Art und Weise verschmel- zen ebenso die Körper, zentral bei Nashats Projekt, mit der fotochemischen Schicht des Bildes – ein Prozess, bei dem der Körper zum Bild wird, das wiederum zur Skulptur wird.
Das Video endet mit einer Nahaufnahme vom Gesicht und von dem nackten Oberkörper eines gutaussehenden Schauspielers, die bis zur Unkenntlichkeit hin vergrössert wurde und erst durch das Scharfstellen im Film erkennbar wird. Der Körper des Schauspielers ist ein Körper, der vertraut damit ist, ein Bild darzustellen.
Im hinteren Raum liegt die unheimliche Skulp- tur Player. Eine in Stoff gehüllte Form, die nach einer Testpuppe für Auffahrunfälle model- liert ist, liegt verknautscht auf dem Boden und wirkt wie ein schlaffes, passives Opfer, trotz allem bereit für alles, was kommen mag. Der Tod durchdringt alles in The Cold Horizontals und erlaubt es uns nicht zu vergessen, dass die Dialektik zwischen Tod und Verlangen genauso stark ist wie die zwischen Körper und das an ihn erinnernde Bild. Denn auch nach dem Tod des Körpers leben die Bilder weiter. Und die Körper, so Nashat, sehnen sich vergeblich nach der gleichen Unsterblichkeit. Dies wiederholt sich eindringlich im Film, wenn die Stimme, die für den Körper spricht, unerbittlich vom Bild wissen will: «Wie werde ich sterben? Wer wird mich tragen? Wer wird meine Nachwirkung spüren?».
Shahryar Nashat ist 1975 in Genf, CH, geboren; er lebt und arbeitet in Los Angeles, USA.