Eine gelungene Kurzgeschichte oder Roman zu schreiben, kommt nicht von ungefähr, es ist nicht nur eine Frage der Disziplin, sich jeden Tag an den Schreibtisch zu setzen, sondern auch des Fingerspitzengefühls, den Leser von Anfang an zu fesseln. Beide Talente werden einem Schriftsteller nicht unbedingt in die Wiege gelegt; Disziplin kann man lernen, einen Leser zu fesseln nicht. Wie ein Schriftsteller die Aufmerksamkeit des Lesers gewinnt, ist keine leichte Aufgabe. Das kann man nicht lernen oder trainieren. Es ist einfach ein angeborenes Gefühl, vergleichbar mit dem eines Raubtiers, das das Blut seines Opfers noch über Kilometer riechen kann.

Ein echter Kunstschreiber weiß genau, welche Worte er in den ersten Zeilen seines Textes verwenden kann, um den Leser zum Nachdenken anzuregen. Ohne diesen ersten Schritt hat er so gut wie keine Chance, dass seine Zeilen weitere Anregungen, Neugier, Nachdenklichkeit und vor allem die hungrige Neigung wecken, den Text zu Ende zu lesen. Nicht nur die Worte müssen stimmig sein, auch der Aufbau und die Elemente der Erzählung, ob Roman oder Kurzgeschichte, müssen vollkommen überzeugen.

Die Zeit stellt das zentrale Element dar, um eine Geschichte von der realen Welt zu lösen. Der Autor muss sich in diesem Zusammenhang bewusst machen, welche Auswirkungen dies hat, wie die Uhr z.B. in einem Roman tickt und welche Möglichkeiten er hat, ein abgeschlossenes Fragment zu schreiben. Die Zeit, in der die Geschichte spielt, muss von der Zeit, in der der Erzähler lebt, und von der Zeit, in der der Leser in seinem Wohnzimmer liest, abweichen. Der Autor ist in der Lage, drei verschiedene Zeitperspektiven zu nutzen, um sein Werk zu gestalten. Die am häufigsten verwendete Technik, die insbesondere in fantastischen Geschichten zu beobachten ist, ist die Kontrastierung von Zeit und Realitätsebenen, wodurch eine literarische Geschichte mit bloßer Realität verknüpft wird.

In der wissenschaftlichen Literatur finden sich zahlreiche Essays und Theorien, die sich mit der Zeit in der Literatur auseinandersetzen. Diese Theorien versuchen, die Chronologie der Werke punktgenau zu beschreiben und zu analysieren, wie diese direkt oder indirekt den Leseprozess beeinflussen kann. Zu den relevanten Vertretern gehören: Gerard Genette, Martin Heidegger, Marcel Proust und Michail Bachtin. Letzterer, der russische Literaturwissenschaftler, analysierte die Techniken mit den Elementen und deren Wirkung in literarischen Texten. Die Jahre nach seiner Verbannung in den 1930er Jahren waren die produktivsten für Michail Bachtin, seine Essays, Manuskripte und ernsthafte Thesen zur Romanforschung wurden entworfen und geschrieben, später in den 1960er und 1970er Jahren, nach der Veröffentlichung dieser Werke, wurde er zu einem Kultforscher in der westlichen Welt. Insbesondere sein Werk Formen der Zeit und des Chronotropos im Roman aus dem Jahr 1937 beschäftigt sich mit der Zeit-Raum-Struktur in einer Erzählung. Auch der französische Literaturtheoretiker Gerard Genette befasste sich mit der Erzählzeit und der Erzählweise und veröffentlichte zahlreiche Studien dazu auf Französisch. Darüber hinaus führte er neue Begriffe in der Zeitanalyse des Romans ein, nämlich Ordnung, Dauer und Frequenz. Sein Werk Neuer Diskurs der Erzählung, das erst 1998 auf Deutsch veröffentlicht wurde, gilt bis heute als grundlegend für die Analyse literarischer Texte.

In der Tat ist die Zeit in einem Roman eine erfundene Einheit, aber sie trägt die Ereignisse der Figuren und entwickelt sich im Laufe der Geschichte zum wichtigsten Pfeiler ihrer Statik. Der Autor kann die Zeit gezielt als gestalterisches Instrument einsetzen, indem er sie als parallele Erzählebene in die Geschichte integriert. Dadurch entstehen zwei unterschiedliche Zeitebenen: Während die Haupthandlung in einer fortlaufenden Chronologie entfaltet wird, werden Ereignisse aus der Vergangenheit in einer getrennten Zeitschicht beleuchtet und kunstvoll mit der Gegenwart der Erzählung verknüpft.

Sobald dem Leser durch Signale die Erkenntnis vermittelt wird, dass er eine gewisse Zeitebene in der Erzählung betritt, wird die gesamte literarische Schöpfung verständlicher und klarer, da durch die erzählerischen Zeitwechsel in einem Roman die vorangegangenen Ereignisse besser erklärt werden können. Eines der erfolgreichsten Beispiele für Parallelwelten und Zeitsprünge ist der Roman der amerikanischen Schriftstellerin Patricia Highsmith mit dem Titel Ediths Tagebuch, der erstmals 1980 in Deutschland erschien. In diesem Roman setzt die Autorin sowohl den Zeitwechsel als auch die Zeit-Realität selbst meisterhaft ein. Die Journalistin Edith Howlands, die Hauptfigur des Romans, führt ein unglückliches, zerrissenes Leben: von ihrem Mann verlassen, muss sie sich um einen kranken Onkel kümmern, der auf ihre Hilfe angewiesen ist. Ihr Sohn ist ein Versager, der weder lernt noch arbeitet und bei ihr wohnt. Obwohl sie keine Anstrengung unternimmt, sich mit den drei Männern auseinanderzusetzen, nimmt sie ihr Schicksal an und zieht von New York nach Pennsylvania. In der Folge wird die Realitätsebene der Haupt- und Nebenfiguren durch die Schriftstellerin Patricia Highsmith dargestellt, wobei eine Reihe von Schicksalsschlägen zu verzeichnen ist, denen Edith im Laufe der Geschichte ausgesetzt ist.

Sie beginnt ein Tagebuch zu führen, das sich als Parallelwelt entpuppt, in der Edith anfangs ehrlich ihre Erlebnisse niederschreibt. Im weiteren Verlauf verändert sich jedoch die Ausrichtung der beschriebenen Inhalte. Anstatt die Realität wiederzugeben, bringt sie nun ihre Wünsche, Vorstellungen und Träume zum Ausdruck. Denn in dieser Parallelwelt ist Edith eine glückliche Frau, sie hat einen fürsorglichen Ehemann und einen erfolgreichen Sohn, der auch Familienvater ist und ihr eine Enkelin geschenkt hat. In dieser Wunschwelt versucht die Hauptfigur über ihren Schatten zu springen, weil sie ihr elendes Leben nicht akzeptiert und gleichzeitig den Bezug zur Realität verliert.

Die von Patricia Highsmith in diesem Roman erschaffene Parallelwelt, das Tagebuch, ist ein hervorragendes Beispiel für das Zeit-Realität-Gefüge, das sich in Ediths Wunschleben manifestiert. Die Realität des Tagebuchs sind ihre imaginären Wünsche, die Erfüllung ihrer Träume und bis dahin eine andere Zeit, die nicht dem Verlauf der Erzählung entspricht. Highsmith erweist sich in diesem Projekt als noch wagemutiger, indem sie eine weitere Chronologie einführt. So werden im Roman historische Ereignisse der Vereinigten Staaten erwähnt, wie der Mord an John F. Kennedy, der Vietnamkrieg und der Watergate-Skandal. Die Erwähnung dieser Geschehnisse entspricht einer weiteren Zeit, die den Leser erreicht und ihn in seine eigene Realität zurückversetzt.

Die Zeitperspektive stellt im literarischen Kontext ein Werkzeug dar, das es ermöglicht, Ereignisse der Vergangenheit mit der laufenden Zeit-Realität der Geschichte zu verbinden. Dies kann sowohl durch eine Figur als auch durch ein anderes Ereignis erfolgen. Die Konfrontation mit diesen Thesen führt zu einem verbesserten Verständnis der vielfältigen Möglichkeiten, Zeit-Raum-Gefüge zu erschaffen. Die Strukturierung dieser temporalen Zusammenhänge wird auf den Leser einwirken, indem er die Ereignisse in einer bestimmten Reihenfolge, verlangsamt oder beschleunigt, nachvollzieht. Um die angestrebte Überzeugungskraft der Erzählung zu gewährleisten, ist es essenziell, dass die Elemente, die sich paarweise im Raum oder in der Zeit zusammenstellen lassen, klar zu erkennen sind, damit die Erzählung ihre Überzeugungskraft entfalten kann.