Auch wenn die Literatur eine ganze Welt für sich ist, die nicht vollständig untersucht wurde, ergeben sich aus einfachen Überlegungen immer wieder Forschungsräume, bei denen wir keinen genauen Begriff entwickeln können. Und wenn wir allerdings punktuell jede Literaturgattung analysieren, stoßen wir auf weitere Fragezeichen. Ein klares Beispiel ist der Definitionsversuch der Chronik und aus welcher Perspektive sie analysiert wird. Da viele Leser das Genre oft mit den journalistischen Reportagen, aus Erzählungen wahrer Begebenheiten, Tagebüchern und Geschichtsromanen verwechseln, möchte ich unter diesen Zeilen meine Meinung, Kenntnisse und Erfahrungen über die Grenzen zwischen Reportage, Erzählung und Chronik mitteilen.
Die Chronik an sich existiert aus journalistischer und literarischer Perspektive und beide Sichtweisen tragen eine eigene Last an Voraussetzungen. Trotzdem bewegt sich die Chronik zwischen untrassierten Grenzen und überschreitet Felder, die sie nicht erobern soll. Rein theoretisch ist die Chronik ein Text, der über ein bestimmtes Ereignis erzählen sollte, in erster Person und in Präsens für das Erachten des Autors und im Präteritum für die Betrachtung der Ereignisse. Der Erzähler bemüht sich das gesamte Geschehen vollkommen reibungslos und neutral zu beschreiben. Dabei sollte er auch Namen, Orte und Daten so exakt wie möglich wiedergeben, damit der Leser eine Verbindung erstellen kann. Chronisten sind ja oft Journalisten, die beispielsweise ein Kapitel der gegenwärtigen Geschichte beschreiben, um den Moment festhalten zu können. Wiederrum könnten wir einen Autor, der ein Geschichtsbuch geschrieben hat, mit dem Journalisten vergleichen und beobachten, ob deren Texte im gleichen Maße die Wahrheit beinhalten bzw. ist einer davon glaubwürdiger als der andere und warum. Bei dieser Analyse hat der Journalist einen großen Vorteil, denn seine Quelle ist frischer, seine Zeugen noch findbar und am Tatort könnte er noch vorbei kommen. Bei dem Geschichtsbuchautor sieht es ganz anders aus, denn seine ganze Arbeit ist aus „Wahrheiten“, die er von anderen Büchern als Säule seiner Arbeit übernommen hat. Diese Wahrheiten, die nichts anderes als Quellen sind, können evtl. unter Unstimmigkeiten entstanden sein, so dass die ganze Information unpräzise wäre. Der Autor glaubt blind an seine Quellen und schließt diese Möglichkeit aus. Er folgt seinem Gefühl, diese Quelle ausgewählt zu haben sei richtig und dem entsprechend könne auch seine Recherche und Interpretation überzeugen.
Als Beispiel kann ich die Nachricht einer Zeitung nennen. Sie ist die Beschreibung einer wahren Begebenheit und beinhaltet verifizierbare Informationen wie Datum, Uhrzeit und Beteiligte (mit Namen und Nachnamen). Der Text ist eine Nachricht oder ein Bericht aufgrund des journalistischen Nachrichtenwert, wenn wir eine Beurteilung regelgerecht wiedergeben würden. Wenn aber ein Journalist aus dieser Nachricht oder Bericht eine Reportage machen würde, geht der Text bspw. darüber hinaus und grenzt nah an die Literatur an. Die Reportage spiegelt nicht nur die Informationen wider, sondern erweitert die geschichtliche Perspektive durch die chronologische Reihenfolge und die subjektive Meinung des Autors, wenn er sie äußert. Durch das Informationsvolumen geht die Reportage ins Format einer literarischen Geschichte, wobei Leser anfangen, den Unterschied zu verwechseln. Durch alle zur Verfügung stehenden Mittel geht ein Journalist mit seinem Report – literarisch, bildlich oder visuell – an die Kernfrage, die Wahrheit oder eine Lüge darzustellen. Oft ist für die Einen die Ethik nur eine Frage des Geldes und von Anderen wird die Aneinanderreihung der Angaben so manipuliert, dass eine andere „Wahrheit“ zum Vorschein kommt.
Im festen literarischen Raum, der Erzählung, befasst sich der Autor auch mit Themen oder Problematiken, welche aus der Realität genommen wurden, um eine gewisse Sichtweise darstellen zu können. Sie hat die Güte des literarischen Realismus und darf uns durch komplexe Mechanismen eine „Wahrheit“ mit verschiedenen Facetten und scharfen Kanten darstellen, die bei den Lesern den Funken der Begeisterung entzündet. Die Charakteristiken eines solchen Werk unterscheiden sich wenig von einer Reportage. Es kontrastiert, in dem der Erzähler evtl. eine Figur sein kann. Dieser entscheidende Punkt bringt den ganzen Text – Erzählung oder Roman – über die unterdrückte Sperre des Journalismus und lässt ihn blühen auch wenn den Lesern von vornherein bewusst ist, dass diese „Realität“ ein Produkt des Vorstellungsvermögens des Autors ist. Davon gibt es unendlich viele Romane und Erzählungsbände.
Ein Meisterwerk dieses Genre ist Der Name der Rose von Umberto Eco. Da der Roman vom Mysterium einer Ermordung im mittelalterlichen Europa handelt, versucht der Autor eine Wiederherstellung der Umgebung, Figuren und alltäglichem Leben einer Abtei. Jedoch geht es hier grundsätzlich um die Freiheit des Romanciers, denn ohne sie würde er, nur anhand der Informationen, das gesamte Umfeld, Handlung und die Figuren nicht rekonstruieren können. In diesem Fall ist zu erwähnen, wie Eco seine tiefen Kenntnisse über die Geschichte und Persönlichkeiten jener Zeit – in der Handlung erhalten sie andere Namen – wiedergibt und wie sie interagieren. Der Ermittler konfrontiert sich mit bemerkenswerten Situationen und Verhalten, deren Sinn zu einen späteren Zeitpunkt für die Aufklärung nachvollziehbar wird. Ein weiteres Merkmal in der Struktur ist der Erzähler, der selbst auf eine subtile Weise auch eine Rolle spielt und aus dieser Position heraus seine Lektüre berichtet. Ecos Roman ist ein Klassiker, eben aufgrund seiner vielfältigen literarischen Fähigkeiten, beispielsweise der Verbindung des Erzählers mit der Geschichte. Er entdeckt die von Adson von Melk geschriebenen Memoiren. Im Buch erzählt Adson als alter Mann seine Erfahrung mit dem Ermittler William von Baskerville bei der Ermittlung einer Reihe von Morden in einer norditalienischen Abtei. Dies ergibt, dass der Erzähler eine Sichtweise über eine relativ sichere Quelle, Adson Memoires, hat und diesen Einblick auch hinterlässt. Die Zeitankopplung macht dadurch ein fernes Geschehen, 14 Jh., aussagekräftiger, dynamischer und vor allem unmittelbar.
Im Gegensatz dazu lässt die Chronik und ihre ordnungsmäßigen Bedingungen einen Text so stark unterdrücken bis er erstickt. Die einseitige journalistische Perspektive kann dem Leser ein Signal geben, die „Wahrheit“ sei glaubwürdig aufgrund der mit der Realität verbundenen Informationen. Dabei wird auch eine zweideutige Nachricht vermittelt, deren Kraft den Betrachter in unterschiedlichen Stärken erreicht.