„Die Eigenschaft der Tätowierung wird in die Seele des Kunden eingraviert,“ betont der 2011 verstorbene japanische Tätowiermeister Horikazu in seinem letzten Interview. Er gehörte einer großen japanischen Tätowiererdynastie an und arbeitete 40 Jahre im Tokioter Distrikt Asakusa. Horikazu beherrschte die seit Urzeiten in Japan benutzte Tebori-Technik, die durch einzigartige Farbgebung und feine Abstufung besticht. Seine Kunden bezeichnen Horikazu-Tattoos als „Juwelen“ und sind stolz darauf, dass ihre Körper mit seinen makellosen Kunstwerken geschmückt sind.
Seit 2004 begleitete der Fotograf Martin Hladik den japanischen Tätowiermeister mit der Kamera, fasziniert von der Schönheit der Arbeiten Horikazus. Hladik gewann das Vertrauen des Sohnes und Nachfolgers Horikazuwaka und zunehmend auch der ganzen Familie. Er nahm an Familienfeiern und traditionellen Festivals teil, wo tätowierte Kunden auftraten, und fotografierte sie.
Auf diese Weise entstand ein bemerkenswert authentisches Fotobuch, mit einem geradezu intimen Blick auf die Tätowierkunst in Asakusa. Darüber hinaus antworten die japanischen Meister erstaunlich offen auf Fragen zum beruflichen und privaten Leben – geben mitunter auch „Betriebsgeheimnisse“ preis. Bei einem Besuch im Studio des Meisters erfährt man, welche Nadeln und Stichtechniken Horikazu einsetzte, wie er Farben produzierte und benutzte – und wie seine Meisterwerke entstanden, von der Hand auf die Haut. Man bewundert die ausdrucksstarke Ästhetik und komplexen Motivkonzepte. Tätowierer, Tattoofans und Kunstinteressierte werden von diesem Bildband begeistert sein. So nah war man noch nie dran an Tebori und traditioneller japanischer Tätowierung!
Showroom der Hautgemälde
Fraglos sensationell und bisher einmalig ist die Serie ganzseitiger Abbildungen von Horikazu-Kunden, die offen und selbstbewusst Ihre Ganzkörpertätowierungen in voller Pracht präsentieren. Jedes der abgebildeten Tattoos ist ein Unikat, exklusiv für den Träger entworfen und von Hand ausgeführt. Gesamtkunstwerke eines genialen Künstlers, die man hier in aller Ruhe bis ins kleinste Detail studieren kann. Solche Tebori-Originale bekommt man in Japan nur sehr selten zu Gesicht. Die Zurschaustellung von Tätowierungen ist dort nach wie vor tabu. Eine Gelegenheit dies dennoch zu tun, ist das alljährliche Sanja-Matsuri-Festival in Asakusa.
Sanja-Matsuri gilt als sagenhaft extravagant, als lärmendes, wildes und wüstes dreitägiges Spektakel mit Saufgelagen, Tanz und Prasserei. Der Leser findet hier eine packende Schilderung mitten aus dem Getümmel heraus sowie mitreißende Bilder vom berühmtesten Festival in Tokio. Der große Auftritt für die ganzkörpertätowierten Männer im „Fundoshi“ (japanischer G-String). Und wer genau hinschaut, entdeckt mitunter einen Horikazu-Kunden, der waghalsig oben auf dem gefährlich schwankenden Schrein balanciert und die Träger mit Rufen anfeuert.
Jede Menge Japan-Motive
Ein weiterer Höhepunkt des Buches sind Originalzeichnungen aus dem Studio des Meisters, die bislang unter Verschluss waren. Die vorliegende Auswahl unveröffentlichter Zeichnungen ist eine echte Rarität – und ein ungewöhnlicher Zugang zur Kulturgeschichte und Ästhetik Japans. Kompetente Textbeiträge erklären anschaulich die Entwicklung der vielefältigen Bilderwelt Japans, von Koi bis Kabuki, von Buddha bis Benzaiten. Man begreift den rätselhaften Bildkosmos Japans besser, wenn man die zugrundeliegenden ästhetischen Ideale kennt. Zen, buddhistisches und konfuzianisches Gedankengut sind die Wurzeln der japanischen Kunst.
In Horikazus Zeichnungen findet man zahlreiche Charaktere aus Legenden, Mythen und großen Epen Japans wieder, die als Tattoomotive sehr beliebt sind und in komplexe Tebori-Dramen integriert werden. Und Japanexpertin Agnes Giard erzählt gekonnt die Geschichten von Liebe, Tod und Teufel, die zu jedem Motiv gehören. Man hat eine wahre Goldgrube außergewöhnlicher und origineller Motive vor sich: Rebellen und Räuber, Helden und Antihelden, schöne Kurtisanen und Göttinnen, Kabuki-Stars und Samurais, tätowierte Ritter, Dämonen und Vernichter der Dämonen – Buddha selbst tritt auf, erleuchtet oder zornig. Man findet auch Motive der im Westen bekannten japanischen Farbholzschnitte in Horikazus Tattoo-Kompositionen („Bilder der fließenden Welt“). Alles in allem ist Traditional Tattoo in Japan - Horikazu eine fast unerschöpfliche Quelle der Inspiration für Tätowierer und Fans des japanischen Stils.
Das großformatige Buch Traditional Tattoo in Japan - Horikazu ist ein Highlight für alle Tattoo- und Japanfans! Eine beeindruckende Präsentation des Lebenswerks eines stilbildenden Tattoomeisters. Auf knapp 500 Seiten mit mehr als 400 Abbildungen taucht man tief in die geheimnisvolle Welt der traditionellen japanischen Tätowierung ein. Ein Wunderland für Motivsucher, hochgradig inspirierend!
Text by E. J. Wormer
In Zusammenarbeit mit Edition Reuss www.editionreuss.de
© Photos by Martin Hladik (www.tattooinjapan.com)