In meinen Fotografien versuche ich, die Atmosphäre der erstarrenden Zeit darzustellen.
(Vadim Morkel)
Vadim Morkel kommt aus Lviv (Ukraine). Mit 17 Jahren fängt er an, mit Fotogrammen und Fotocollagen zu experimentieren. Diverse Ausstellungen finden in Privatwohnungen statt. 1997 zieht er nach Berlin, wo er sich der dortigen Kunstszene anschließt. In der deutschen Hauptstadt lernt er Fotografie und Design. Heute ist er als freischaffender Fotograf tätig. Einige seiner Werke befinden sich in privaten Sammlungen in Deutschland, Italien, Russland und der Schweiz.
Ein Foto ist kein Gemälde. Es ist nur eine kurze Skizze, eine Notiz über das Geschehen.
(Vadim Morkel)
Vadim Morkel möchte den „Augenblick” festhalten, sogar mehr. Er möchte ihn verewigen, denn das Leben besteht aus unzähligen Momenten, die einmalig, daher einzigartig sind und deshalb nicht vergessen werden dürfen.
Was hat dich dazu getrieben, Fotograf werden zu wollen?
Mein Vater hatte eine schöne Fotokamera und alles, was man für Fotovergrößerungen brauchte. Und nachts, in der Küche, vergrößerte ich meine Schwarzweißfotos. Die kreative Stimmung der Dunkelkammer, ihr dunkelrotes Licht, all dies hat mich damals fasziniert und es fasziniert mich bis heute noch. Deswegen bringe ich wahrscheinlich auch alle meine Fotos ausschließlich selbst aufs Papier. Ich verstehe Fotografen nicht, die nur Fotos signieren, die von jemand anderem gedruckt wurden. In meiner Fotografie spielt die handwerkliche Arbeit eine sehr wichtige Rolle. Von der Wahl des Fotopapiers bis zur Tönung. Der gesamte Schöpfungsprozess ist eins. Später in der Schule interessierte ich mich dann am meisten für Geometrie und Kunst. Das alles gibt es in der Fotografie. Und es hat mir geholfen, eine Wahl zu treffen. Eines Tages, vor etwa 15 Jahren, las ich das Buch Die helle Kammer von Roland Barthes. Dies ist wohl der herzlichste und emotionalste Essay über Fotografie. Dieses Buch hat meine Vorstellungen von der Fotografie verändert und die wichtigste Eigenschaft der Fotografie entdeckt – Es ist so gewesen. Und plötzlich wurde mir klar, dass Fotografie in gewisser Weise Magie ist.
In deiner letzten Ausstellung Garden in the middle of the horizon, die 2022 in Berlin stattgefunden hat, hast du Fotografien gezeigt, die sich von der „Zentralperspektive” entfernen wollten, da das Auge nur eine einfache Linse sei, die eben diese Zentralperspektive sehen würde. Deines Erachtens ist also nur die Kamera dazu fähig, alle möglichen Winkelaufnahmen zu entlocken. Siehst du daher die Linse des menschlichen Auges als eine Art „Einschränkung” oder sogar ein „Gefängnis”, etwas, was dich aus dem freien „Kreativsein” entfernt und gegen „das Wahre” geht?
Ja, tatsächlich hat die Fotografie in den letzten 150 Jahren unsere visuellen Vorstellungen von der Welt um uns stark verändert. Das menschliche Sehvermögen ist nicht das vollkommenste auf diesem Planeten. Viele Tiere und Insekten verfügen über ein weitaus entwickelteres Sehvermögen. Und mit dem Aufkommen der Fotografie hat sich unsere Sehfähigkeit deutlich verbessert. Die Grenzen der sichtbaren Welt haben sich für uns erweitert. Wir begannen, im UV- und Infrarotspektrum zu sehen und konnten Prozesse erfassen, die für das menschliche Auge unglaublich schnell ablaufen. Weitwinkelobjektive veränderten unser Verständnis des umgebenden Raums. Deshalb habe ich in meiner letzten Ausstellung Fotografien gezeigt, die mit verschiedenen Objektiven aufgenommen wurden und die Welt in unterschiedlichen Aspekten zeigen, die für unsere Sehkraft nicht charakteristisch sind. - Schränkt uns unsere Sehkraft ein? - Natürlich, aber im Alltag reicht uns das und noch besser, dass unser Sehvermögen und unser Gehirn uns alles entziehen, was nicht zum Überleben notwendig ist. Aber aus der Sicht von Kunst und Wahrheit handelt es sich sicherlich um eine Einschränkung. Und die bildende Kunst strebt seit jeher danach, über das Sichtbare hinauszugehen. Die gesamte Malerei des 20. Jahrhunderts war dem Kampf einer zentralen Perspektive gewidmet. Ich denke, dass die kreative Fotografie im 21. Jahrhundert das gleiche erleben wird.
Hilft dir die Kamera dabei, dich aus dem Alltäglichen zu „retten”?
Ja, ja genau! So ist es! Nichts bleibt gleich auf diesem Planeten, alles ändert sich, nichts steht still. Alles ist in ständiger Bewegung: Menschen, Gegenstände, Wolken. Das Licht verändert sich ständig und der Schattenwurf verändert sich. Die Welt um uns herum bildet sich für einen Augenblick und in einer Sekunde wird alles verschwinden. Und ich bin sehr froh, dass ich meine Kamera dabei habe und es mir gelungen ist, etwas festzuhalten, was höchstwahrscheinlich nie wieder passieren wird. Ich habe einmal ein Foto gemacht – Aussichtsfernrohr am Meeresufer. Du weißt, eines von denen, in die man eine Münze wirft und für eine Minute etwas am Horizont sehen kann. Viele Menschen waren von diesem Foto wirklich begeistert. Mir kam es jedoch so vor, als fehle es ein wenig an Schärfe. Und ich kam noch viele Male an diesen Ort. Und versuchte, es noch einmal zu fotografieren. Aber jedes Mal war alles viel schlimmer als beim ersten Mal. Entweder war der Horizont nicht geeignet oder das Sonnenlicht war zu kontrastreich. Und beim letzten Mal stellte sich heraus, dass dieses Aussichtsfernrohr völlig kaputt war. Und ich bin wieder einmal davon überzeugt, dass meine Fotos später nicht mehr aufgenommen werden können. Alles wird viel weniger ausdrucksstark. Ein japanisches Haiku hat eine Eigenschaft: es erscheint einfach, selbst eines zu schreiben. Das gleiche gilt für die Fotografie.
Kann die Fotografie in gewisser Weise sogar auch die Welt retten oder sie zumindest verbessern?
Fotografie ist ein sehr mächtiges Mittel. Und wie bei jedem starken Medium kommt es darauf an, in welche Hände es gelangt. Es gibt viele Fotos, welche die Welt für immer zum Besseren verändert haben. Und es gibt solche, die zu Propaganda- und Manipulationszwecken eingesetzt werden. Gerade jetzt, wo sich große Möglichkeiten eröffnen, Manipulationen als echtes fotografisches Bild auszugeben. Ich hoffe, dass es in der Zukunft ein zuverlässiges System zur Erkennung solcher gefälschten Fotos geben wird. Sonst wird die Gesellschaft überhaupt keinen Glauben mehr an Fotografien haben.
Hast du mit der Kamera eine Art „Liebesaffäre”?
Ja, wirklich sind viele Fotografen zu sehr in ihre Kamera verliebt und kümmern sich zu sehr um sie. Aber ich gehöre nicht dazu. Ich verstehe, dass der Fotograf fotografiert, nicht die Kamera. Ich habe bestimmt etwa fünf Kameras zu Hause und wähle diejenige aus, die mir im Moment am besten erscheint, obwohl einem die zuletzt gekaufte Kamera wahrscheinlich immer die liebste ist. Ich lege in letzter Zeit mehr Wert auf das Licht als auf die Kamera an sich. Licht ist von Natur aus viel komplexer als sich die meisten vorstellen können. Ohne ein tiefes Verständnis der Natur des Lichtes ist es unmöglich, die Fotografie zu meistern.
Wenn du deine Kamera vermenschlichen könntest, was würdest du ihr sagen oder was würdest du sie fragen?
Ich würde dann gerne meine Kamera fragen, ob die Fotografie eine Art kollektives Gedächtnis ist oder was mit uns passiert, wenn alle unsere Fotos verschwinden.
Was fotografierst du am liebsten?
Ich habe keine besonderen fotografischen Vorlieben. Aber man kann sagen, dass ich zweifellos bestimmte Momente des Lebens bevorzuge, die mich beeindrucken und die ich festhalten möchte. Seltsame Gegenstände, Landschaften, die zu meinem inneren Zustand passen und ein Gefühl von Ruhe, Besinnung, Einsamkeit, Freiheit hervorrufen. Die Fotokamera wird für mich zum Spiegel, mit dessen Hilfe ich mit mir selbst und mit dem Betrachtenden Zwiesprache halte.
Bevorzugst du die Schwarzweiß- oder die Farbfotografie?
Diese Frage habe ich von dir erwartet. Mehr als eine Generation von Fotografen und allen, die sich für Fotografie interessieren, haben über diese Antwort debattiert. In der Schwarzweißfotografie ist es leichter, Licht und Schatten, Form und Textur, Tonalität und Stimmung zu erkennen. Und beim Farbfoto ist die Farbe das Wichtigste. Daher ist die monochrome Fotografie meiner Meinung nach ein viel wirkungsvolleres Ausdrucksmittel. Ich finde, die Umstellung auf Schwarzweiß ist der radikalste Weg, mit der Realität zu brechen. Selbst die stärkste Farbverfremdung führt nicht zu diesem Ergebnis. Doch gleichzeitig haben wir uns längst an die Schwarzweißfotografie gewöhnt. Und sie weckt gute Assoziationen mit vergangenen Zeiten. Farben werden als etwas Vorübergehendes, Vergängliches betrachtet und demnach auch schnell aus dem Gedächtnis verdrängt. Deshalb sind die meisten meiner Fotografien monochrom. Betrachtet man Meisterwerke der Fotokunst, sind es zu 90 Prozent Schwarz-Weiß-Bilder. Bisher war das Problem bei Farbfotos die fehlende wirksame Farbkorrektur. Im Vergleich zum Maler war der Fotograf in diesem Mittel sehr eingeschränkt. Und viele Fotografen lehnten Farbfotos ab. Mit dem Aufkommen der digitalen Bildverarbeitung sind nun neue Werkzeuge für die Farbsteuerung entstanden. Und das eröffnet neue interessante Möglichkeiten. Mich interessiert es, was mit der Farbfotografie in Zukunft passieren wird. Obwohl ich selbst sehr gerne mit Polaroid und in Farbe fotografiere, ist mein Rat: Wenn man ein Meisterwerk haben möchte, dann sollte man in Schwarzweiß fotografieren.
Was inspiriert dich am meisten beim Fotografieren?
Was mich an der Fotografie am meisten fasziniert und inspiriert ist, ihre Fähigkeit, Licht einzufangen und zu bewahren. Waren es in der analogen Fotografie Kristalle aus Silberhalogenen, so sind es in der digitalen Fotografie Siliziumkristalle. Aber das Wesentliche hat sich nicht verändert – es handelt sich um unsichtbare Zeitkristalle. Man stelle sich vor, was ein Photon ist, welche Geschwindigkeit es im Raum hat und woher es zu uns kam. Man wird erkennen, dass Fotografie wie eine bestimmte Art von Magie ist. Das fasziniert und inspiriert mich sehr.
Die Welt um uns herum ist wie ein surrealer Film oder ein surreales Theaterstück. Die Entstehung der Fotografie wurde zu einer Art Insel mitten im Ozean. Verkörpert die Fotografie die Insel deiner eigenen Rettung?
Wenn man mit dem Fotografieren beginnt, fallen einem sofort viele Merkwürdigkeiten unserer Welt auf. Es ist unklar, woher die Schatten kommen und wohin sie fließen, der Lichtglanz auf Objekten, die seltsamen Posen von Menschen, die der Kameraverschluss einfängt. Auf den ersten Blick wirkt das alles irgendwie surreal. Die Welt, in der wir leben, ist überhaupt nicht so, wie wir denken. Ich vermute, dass der Surrealismus als visuelle Kunst entstand, als die Menschen begannen, sich die ersten Fotografien dieser Zeit anzuschauen. Wir leben jetzt im Epigonale-Zeitalter, und unsere Zukunftsvision erscheint uns im Nebel. Für mich ist die Fotografie keine Rettung aus dem Ozean der Ereignisse. Aber wenn ich in meiner Dunkelkammer oder vor einem Bildschirm sitze, reise ich voller Begeisterung in meine fotografischen Welten und vergesse für einen Moment den Hintergrund des Geschehens. Daher ist dies eine Insel für mich, und ich hoffe auch für Menschen, die meine Fotos lieben.