Insbesondere nach der dunklen Jahreszeit und den weiterhin herausfordernden Rahmenbedingungen sehnen sich Menschen nach Licht. Es steht seit Urzeiten für Leben, Wärme, Orientierung oder sogar für das Göttliche. Um die Vorfreude auf den Frühling sowie den Sommer zu verstärken und die Kraft wieder erstarkender Lebensfreude bereits jetzt zu spüren, lade ich Sie zu einer Reise mit spektakulärem Licht in die Kunst des 19. Jahrhunderts ein.
Es war eine Zeit enormer technischer Fortschritte und damit einhergehend tiefgreifender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umbrüche. Das Leben der Menschen hat sich insbesondere in den massiv anwachsenden Großstädten radikal verändert. Dampfzüge und –schiffe ermöglichten immer schnellere und intensivere Verbindungen zwischen Regionen und Staaten. Ab der Jahrhundertmitte verbreitete sich die Fotografie und die elektrische Telegraphie. Ähnlich wie heute an der Schwelle zum Digitalzeitalter wurde alles rasanter, schneller und unberechenbarer. Der Faktor Zeit, der bis zum Vorabend der Französischen Revolution im Alltagsleben der Landbevölkerungen kaum eine Rolle spielte, wurde nun zu einem entscheidenden Maßstab. Heute ist ein Leben ohne Zeitmessung kaum mehr vorstellbar, mit allen Vor- und Nachteilen.1
Vor allem in Umbruchs- bzw. Krisenzeiten – und das gilt für heute wie schon für das 19. Jahrhundert - kann es umso bereichernder sein, sich einfach in einem Kunstwerk zu verlieren, Raum und Zeit hinter sich zu lassen. Das Phänomen Kunst kann uns in einer Tiefe berühren, die weit über das Verstehen hinaus geht und die bis heute wissenschaftlich noch nicht abschließend geklärt ist. Deshalb lade ich Sie ein, Kunst nicht nur über den Verstand zu erfassen, sondern mit allen Sinnen wahrzunehmen, Kunst buchstäblich zu fühlen. Spüren sie einfach einmal, was mit Ihnen passiert, wenn sie vor einem Kunstwerk stehen. Wenn Sie bereit sind sich zu öffnen, können Sie viel entdecken. Dabei geht es nicht nur um das Sehen. Vielleicht können Sie sich auch Geräusche, Töne, Gerüche, Kälte oder Wärme vorstellen.
Zu einer umfassenden Sinneswahrnehmung lädt das Bild von William Turner mit dem Blick auf Venedig ein. William Turner, der gerne auch als Maler des Lichts bezeichnet wird, hat mit diesem Blick vom Portal der Kirche Madonna della Salute 1835 einen Moment in einer Art und Weise festgehalten, welcher die viel später im Jahrhundert malenden Impressionisten beinahe vorweg nimmt. Das Figurative und Materielle beginnt sich in seinen Werken immer mehr aufzulösen. Wichtiger wird die Stimmung des lichtgetränkten und farbenfrohen Augenblicks. Turner feiert das Licht, dessen Wirkung noch durch die sich im Wasser spiegelnden venezianischen Prachtbauten erhöht wird. Trotz des aufgrund der hohen Anzahl von Schiffen, Booten oder Gondeln vermutlich „starken Verkehrsaufkommens“ vermittelt das Werk mehr gelassene Heiterkeit als Hektik. Die schillernde Helligkeit im Hintergrund gibt dem Bild eine fast mystische Tiefe, in der das Gegenständliche zunehmend wie in einem Traumbild verschwimmt. Turner ist hier bereits weit entfernt von der präzisen Vedutenmalerei des bekannten Venezianers Canaletto aus dem 18. Jahrhundert, seine Farben wirken vergleichsweise zart und er vermittelt mehr Atmosphäre als Materie. Der englische Künstler war von Venedig, das er dreimal besuchte, und seinem Licht fasziniert.
In Turners Anfahrt auf Venedig von 1844 können wir uns dann vollends wie in einem mystischen Traumbild fühlen. Die Lagune, gefüllt mit Barkassen sowie Gondeln und am Horizont Venedig verschwimmen in einer einzigartigen Lichtkonkurrenz: Am linken Bildrand ist bereits das Mondlicht zu erkennen, obwohl die Nacht noch nicht hereingebrochen ist. Zugleich wird die rechte Bildseite dominiert vom Licht der mit dem Tag langsam verschwindenden Sonne. Wasserfahrzeuge und Lagunenstadt sind nur noch schemenhaft zu erkennen. Luft, Licht und Wasser verschmelzen zu einer einzigartigen, ausdrucksstarken Komposition, die uns berührt, selbst wenn die Darstellung an sich wie ein verschwommenes Traumbild ohne konkrete Details wirkt.
William Turner zaubert mit Farben zunehmend ein brillantes Licht auf seine Werke, er vermittelt Stimmungen und feiert Momente für unsere Sinne. Seine Kunst ist ein Meilenstein auf der langen Reise der Auflösung des Gegenständlichen in der Malerei, die irgendwann zur Abstraktion im 20. Jahrhundert führen wird. Dieser Weg verläuft allerdings keineswegs linear. Die europäische Malerei des 19. Jahrhunderts zeichnet sich durch eine ungeahnte Vielfalt aus. Neben rasanten Innovationen existiert gleichzeitig weiterhin die sogenannte akademische Malweise, die sich figurativ und thematisch an den Alten Meistern orientiert und über lange Zeit beispielsweise als Salonmalerei in Paris und Wien dominiert.
Aber den Künstlern stehen im 19. Jahrhundert auch völlig neue Techniken zur Verfügung. Kurz vor 1800 wird die Lithographie erfunden, die aufgrund schnellerer und vereinfachter Vervielfältigungsmethoden zu einer Medienrevolution führt. Ungefähr ab der Jahrhundertmitte waren Maler zudem in der Lage Tubenfarben zu nutzen, die sie praktisch überall mitnehmen konnten, was ihnen erlaubte, viel einfacher und spontaner in der Natur zu malen.
Gerade auch mit Blick auf die sich entwickelnde Fotografie suchten Künstler neue Ausdrucksformen, die sich teilweise immer weiter von wahrhaftigen Abbildungen im Sinne realistischer Malerei entfernten. Bahnbrechend auf dem Weg in die Moderne und passend zum bevorstehenden Frühling und Sommer sind natürlich die Kunstwerke der Impressionisten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie gehen den Weg, den Turner bereits betrat, konsequent weiter und begeistern Menschen bis heute. Die Schärfe früherer Konturen in den Bildern verlieren bei den Impressionisten insgesamt zunehmend an Bedeutung. Das Spiel der Farben und die Betonung des Lichts werden immer wichtiger.
Ein Künstler, der sich nicht einfach einer bestimmten Richtung verschrieb und vielleicht gerade deshalb soviel Unvergessliches und Innovatives schuf war Edouard Manet. Dabei entwickelte er sich zu einem der Wegbereiter des Impressionismus. Wir können es nachvollziehen mit seiner atemberaubenden Darstellung Bei den Rennen von 1875. Manet fängt einen winzigen und dennoch unvorstellbar dynamischen Moment eines Pferderennens für die Ewigkeit ein. Dabei stehen Sie als Betrachter nicht etwa wie ein Besucher am Rande oder auf einer Tribüne. Nein, Sie stehen unmittelbar auf der Pferderennbahn und das Rennen kann Sie bereits im nächsten Moment lawinenartig erfassen, wenn Sie nicht zur Seite springen. Diese Perspektive hat es in der Kunstgeschichte bis dahin nicht gegeben. Sie können die Erde unter dem Galopp der Pferde unter sich vibrieren spüren, von den bedrohlichen Geräuschen und der kommenden Wucht der Tiere nebst Reiter ganz zu schweigen. Bei alledem wird die Dynamik des kraftvollen Geschehens noch dadurch verstärkt, dass Manet die Präzision der Darstellung von Reitern und Pferden zugunsten der machtvollen Bewegungsimpulse aufgibt. Er tut dies, als ob er aufgrund der herandonnernden Pferde tatsächlich nur wenig Zeit gehabt hat, diesen Augenblick festzuhalten. Dynamik, Farben und Licht dominieren hier gegenüber der Präzision der Darstellung. Der Effekt kann überwältigen, sogar in den Lithographien, die es von Manet zu diesem Werk gibt. Gänzlich verschwommen im Vibrieren und Beben des Wettkampfes sind links und rechts die Reihen der Zuschauer.
Unter den Impressionisten dieser Zeit berührt mich auch ein Künstler, der sich in seinen Werken insbesondere den schönen Seiten des Lebens zuwandte: Pierre Auguste Renoir. Seine Bilder haben für mich eine besondere Ausstrahlung, eine intensive Aura. Wenn ich vor ihnen stehe, entwickelt sich bei mir pure Lebenslust. Und das betrifft nicht nur seine Werke, in denen er den weiblichen Körper feiert, gerade auch seine Gesellschaftsszenen und Naturdarstellungen begeistern mich. Vor allem Renoir’s helle Farbenspiele und die häufige malerische Inszenierung eines auf unverwechselbare Art flirrendes Lichts können Sinne wecken.
Ein für Renoir typisches Beispiel ist für mich Die Frau mit der Katze auch aus dem Jahr 1875. Das zunächst vielleicht etwas harmlos wirkende Bild zeigt die Intensität und Sinnlichkeit eines einfachen und dennoch besonders schönen Augenblicks. Die für Renoir so typische Weichheit der Farbübergänge strahlt etwas Magisches aus und unterstreicht eine harmonische Gesamtstimmung. Die Katze mit ihrem Fell korrespondiert auf besondere Weise mit der zärtlichen Fürsorge und anmutigen Ausstrahlung der Frau.
Hier schimmert trotz aller impressionistischer Innovation auch französische Kunsttradition durch. Renoir kannte die Malerei der französischen Stars aus der Zeit des Ancien Régime im 18. Jahrhunderts wie Watteau, Boucher oder Fragonard, da er sie im Pariser Louvre bewundern konnte. Auf jeden Fall kann uns Renoir in Bilderwelten entführen, die bei längerem Betrachten ihren ganz eigenen Zauber offenbaren. Oft in Abweichung von seinem eigenen Dasein feiert er das Leben im Moment mit einer bereichernden Impression.
Auch wenn sich eine solche Impression zunächst nur vorübergehend anfühlt, vielleicht so wie ein Duft, der auch verfliegt, so ist es gerade ein kostbarer Augenblick in unserem Leben, den wir auskosten können. Wir sollten diese Augenblicke des Lebens ohnehin mehr schätzen, genau genommen haben wir gar nichts anderes als den Moment. Und wenn wir diesen noch mit lebensbejahender Kunst bereichern, dann kann uns das sehr gut tun.
Gerade aktuell sehnen sich viele von uns nach der Sonne, in optimaler Weise natürlich in der Natur oder sogar an der See. Lassen Sie Renoirs Naturimpressionen auf sich wirken, wie z.B. See und Felswände von 1885. Die Felsen sind getränkt von der Sonne und spiegeln sich zugleich im Wasser. Mit der scheinbar groben Pinselführung stellt Renoir deutlich stärker auf die Gesamtstimmung des Werkes als auf Details ab. Diese Stimmung kann unsere Sinne an den dargestellten Ort entführen. Ich spüre beim Betrachten des Werkes die frische Seeluft und nehme aufgrund der leuchtenden Farben der sich im Wind bewegenden Boote und der impulsiv wirkenden Maltechnik wohltuende, ausgelassene Heiterkeit wahr.
Selbst wenn Renoir in seinem Spätwerk wieder stärker zur Kontur zurückfindet, bleiben seine lichtgetränkten, lebensbejahenden Werke des Impressionismus etwas Besonderes. In ihnen können wir uns verlieren und somit den Genuss sogar über den Moment der Impression ausdehnen. Der Künstler vermittelt die Stimmung idealer Sonntagnachmittage, die am Besten nie zu Ende gehen sollten.
Natürlich ist das Leben keinesfalls immer so ein Sonntagnachmittag. Dennoch können uns gerade in herausfordernden Zeiten Kunstwerke mit einer besonderen Heiterkeit oder einem besonderen Licht sehr viel Power und Lust vermitteln. Das 19. Jahrhundert hat diesbezüglich tolle Malereien zu bieten, da gerade unter dem Eindruck der massiven Industrialisierung und des rasanten Ausbaus von Infrastrukturen Künstler in ihren Werken abseits der sich im Außen überschlagenden Entwicklungen oft einfach die Schönheit unseres Lebens und der Natur festgehalten haben. Dies war dringend notwendig, denn die Errungenschaften der neuen Zeit mit ihren ungeahnten Möglichkeiten haben nicht minder große Schattenseiten mit sich gebracht, wie z.B. eine zunächst einsetzende furchtbare Verelendung großer Teile von Stadtbevölkerungen. Zugleich schwingt sich eine neue Welt – wahrhaft voller Druck - ein auf den erbarmungslosen Takt von Maschinen, auf sich immer schneller entwickelnde Industrien und Verkehrsmittel. Die Zerstörung der Lebensgrundlagen unseres Planeten erreicht eine vollkommen neue Dimension, in der sich viele Menschen gerade in den großen Städten in einer zunehmend denaturierten Welt wiederfinden.
Viele helle und lebensfrohe Motive der Maler des 19. Jahrhunderts entsprechen aus diesem Grund auch zutiefst menschlichen Bedürfnissen und sind damit hoch aktuell. Mit all den Chancen der Digitalisierung vergrößert sich gerade im 21. Jahrhundert zugleich auch die Gefahr einer weiteren radikalen Entfernung des Menschen von der Natur und damit von seinen eigentlichen Existenzgrundlagen. Bei aller Faszination neuer technischer Entwicklungen sollten Menschen nie den Zugang zu ihren natürlichen Wurzeln verlieren, weil sie dann selber verloren sein werden. Ich lade deshalb ein, gerade mit dem Licht der Künstler aus dem 19. Jahrhundert unser Menschsein als Bestandteil einer viel größeren Natur zu feiern. Das Schöne ist, dass es Ihnen sehr genussvolle Momente bereiten kann.
1 Bogisch M., Der schärfste Kuss! Wie die Wiener Moderne die Kunstwelt revolutionierte, Wall Street International Magazine, 6 Juli 2018.