Im Jahr 2006 veröffentlichte die Wochenzeitung „Die Zeit“ unter dem Titel „Geldsache - Avantgardisten des Mangels. Die Armut der freien Künstler“ einen Artikel, in dem das heutige Leben einer Mehrheit der Künstler in Deutschland beschrieben und vor allem auf deren finanzielle Armut näher eingegangen wird. So konstatiert der Beitrag, dass bis zu 80 % der 320 000 selbstständigen Künstler in Deutschland nicht allein von ihrer Kunst leben können. Ohne einen Zweitjob und das Partnereinkommen kämen die meisten nicht zurecht: „Die Kitschfigur des armen Dachstubenpoeten (Carl Spitzweg: Der arme Poet, 1839) hat sich in den prekären Ich-Unternehmer verwandelt. So wie die Künstler werden in Zukunft viele leben müssen. Sie sind hochgebildet und unterbezahlt, flexibel und durchhaltefähig und basteln sich ihre Erwerbsbiografie um einen zentralen Wert herum – die Freiheit des Ausdrucks und der Lebensführung.“ Doch die Künstler beklagen sich nicht, und einige von ihnen bevorzugen dieses zwar arme, aber doch auch unabhängige Leben, in dem sie niemandem außer sich selbst Rechenschaft ablegen müssen und jederzeit von Ort zu Ort ziehen können, ohne große Sicherheiten aufgeben zu müssen.

So gibt es heute einige Künstler, die dem behüteten, Sicherheit gebenden bürgerlichen Leben ein freies Vagabundenleben vorziehen, wie etwa der zeitgenössische Künstler Adrian Basilius, Jahrgang 1958, der Kunst studierte und danach freiwillig die Armut als einen Ausdruck seines selbst gewollten künstlerischen Schaffens wählte. Seine Kunst und sein „neues“ Leben bestanden von nun an in dem Vorhaben, eine selbst gebaute goldene Kugel durch mehrere europäische Länder zu rollen. Diese Reisen bestritt er bewusst ohne Geld und lebte von dem, was ihm die Menschen, denen er unterwegs begegnete, schenkten. Sein nomadisches Wirken bezeichnete Basilius selbst als seine Kunstform.

Schaut man ein Stück zurück in die europäische Kunstgeschichte, kommt man nicht umhin, den Künstler Vincent van Gogh (1853-1890) hinsichtlich des Themas Vagabundenleben und Armut des Künstlers näher zu betrachten. So gibt der Künstler den Verlauf seines von finanziellen Nöten und ständigem Umherziehen geprägten Lebens selbst in seinen mehr als 650 Briefen an seinen Bruder Theo und in weiteren Schreiben an seine Schwester Wil, an die Maler Anthon van Rappard (1858-1892), Emile Bernard (1868-1941) und Paul Gauguin (1848-1903) wieder. Van Gogh schreibt in ihnen von seinen Erlebnissen, Eindrücken und Empfindungen, berichtet von seiner Arbeit und seinen Plänen und reflektiert immer wieder seinen Weg als Künstler. Nach seinem frühen Tod war bereits kurze Zeit später ein großes Interesse der Öffentlichkeit an seinen Kunstwerken vorhanden. Allerdings kam dies dem Künstler selbst nicht mehr zugute. Es scheint, dass van Gogh stets ein Vagabundenleben führte, mit so wenig Geld wie möglich auszukommen versuchte und immer wieder zu neuen Städten aufbrach, um bloß nicht sesshaft zu werden. So führten ihn seine Reisen von seiner Heimat in Zundert nach Den Haag, London und Paris, erneut nach England, Belgien und wieder an verschiedene Orte in Frankreich, wo er mit 37 Jahren starb. Durch eine Mystifizierung der Person van Goghs durch einige Kunsthistoriker und spätere Künstlergenerationen ist der Maler zu einem Stereotypen des armen und kranken Künstlers geworden. Die Armut und Entsagung als Schicksal des Genies sowie die allgemeine Vorstellung einer asketischen Lebenshaltung treffen auf van Gogh während seines gesamten Lebens zu. Er war ein Maler, der sich mit Armut identifizierte und zeitweise sogar bei armen Menschen lebte. Van Gogh malte häufig arme Leute und Objekte der Armut. Allerdings war er selbst in seinem gesamten Leben nie wirklich arm und konnte sich immer auf die finanzielle Unterstützung seiner Familie verlassen.

Eine wichtige Rolle bei der Frage, ob Vincent van Gogh ein armer Künstler und Vagabund war, spielt sein selbst gewählter Entwurf als armer, mittelloser Künstler. Er inszenierte absichtlich dieses Bild von sich, da er mit dem ihm zur Verfügung stehenden Geld nicht umgehen konnte. Die heutige Mystifizierung van Goghs beruht auf seiner schwierigen Rolle als Außenseiter der Gesellschaft. Durch die Hilfsbereitschaft seiner Familie war er finanziell stets abgesichert, einem wesentlichen Wunsch des Vagabundenlebens folgend allerdings nicht unabhängig. Angeregt durch die ergreifenden Schilderungen der Armut in der Literatur des 19. Jahrhunderts, wie bei Honoré Balzac (1799-1850) und Emile Zola (1840-1902), die van Gogh gelesen hatte, und durch sein Mitleid gegenüber den Armen und Bedürftigen erschuf er sich selbst als in Armut lebender Künstler. Er wählte freiwillig den sicherlich nicht unkomplizierten und entbehrlichen Weg als Maler, der seiner Kunst immer treu blieb: „Ich sage Dir, ich wähle bewusst den Hundeweg, ich bleibe Hund, ich werde arm, ich werde Maler, ich will Mensch bleiben – in der Natur.“

Van Gogh favorisierte das arme Vagabundenleben mehr als ein abgesichertes bodenständiges Angestelltendasein, wie es sein Bruder Theo führte. Eines der erstaunlichsten Phänomene, das van Goghs tragisches Künstlerleben ausgelöst hat, war wohl die Wirkung auf die nachfolgenden Künstlergenerationen und den modernen Kunstmarkt.

Autor: Marianne Henke

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