Jedes Mal wenn ich in Wien bin, muss ich sie sehen. Sie ist von überwältigender Schönheit und phänomenaler Vielfalt. Besuche ich sie, fühle ich mich erfüllt. Im Januar 2020 hatte ich gemeinsam mit dem österreichischen Kulturverein Quintessenz unter der Leitung von Katarina Budimaier das Glück, dieses unglaubliche Gesamtkunstwerk begeisterten internationalen Gästen zeigen zu dürfen. Es geht um die Karlskirche, die seit beinahe 300 Jahren ein prägender Bestandteil Wiens ist. Sie ist jedoch weit mehr als eine Kirche, sie ist ein symbolbehaftetes Monument europäischer Kulturgeschichte.

Was macht dieses Bauwerk bis heute so spannend und anziehend? Weshalb sind barocke Gesamtkunstwerke wie die Karlskirche für unser Leben von unschätzbarem Wert?

1713 wütete in Wien das letzte Mal die Pest. Die Pestepidemien in Europa hatten Ausmaße, die wir uns auch in Corona-Zeiten nicht mehr vorstellen können. Noch im Pestjahr gelobte Kaiser Karl VI. aus dem Haus Habsburg, dem Pestheiligen Karl Borromäus eine Kirche errichten zu lassen.1 Ein Höhepunkt des europäischen Barock entstand dementsprechend als Votivkirche in einer Bauzeit von 1716-1737. Und mit dem Projekt wurde nicht nur die Dankbarkeit für die Überwindung der Pest zum Ausdruck gebracht. Das Bauwerk manifestiert zugleich den weitreichenden Machtanspruch der Habsburger auf das universelle Kaisertum in Verbindung mit der uneingeschränkten Akzeptanz des katholischen Glaubens. Das kommt zum Ausdruck durch eine einzigartige programmatische Verknüpfung von christlichen mit antiken Symbolen2 bzw. Bauformen. Die Kirche verkörpert imperiale Stärke und Festlichkeit, in ihr atmet in einem beeindruckenden künstlerischen Einklang mit dem Sakralen auch das Weltliche. Wie im Universum hängt in diesem Gesamtkunstwerk alles mit allem zusammen, die einzelnen Bestandteile und Themen des Bauwerkes sind in unzähligen geistreichen Querverbindungen thematisch aufeinander abgestimmt.

Namensgebende und prägende Persönlichkeit innerhalb einer komplexen Ikonografie ist Karl Borromäus. Er ist nicht nur Namenspatron für die Kirche, sondern auch für Kaiser Karl VI., was vom Symbolgehalt den dynastischen Machtansprüchen der Habsburger entgegenkam. Wer war dieser Karl, dem wir sowohl in der Außenarchitektur als auch im Kirchenbau an prominentesten Stellen begegnen?

Karl Borromäus ging als eine Galionsfigur der Gegenreformation in die Geschichte des 16. Jahrhunderts ein. Er setzte sich unter dem Einsatz des eigenen Lebens als Erzbischof von Mailand für Pestkranke und Sterbende ein. Es hätte damit keinen perfekteren Namenspatron geben können. Dieser Erzbischof lebte was er predigte, wodurch er schon zu Lebzeiten eine enorme Popularität genoss. Er stand für Askese, Demut und unbedingte Frömmigkeit. Unter ihm entstand in Mailand mit der cultura borromaica ein geistiges Klima, welches vermutlich auch einen der bahnbrechenden künstlerischen Weichensteller für das europäische Barock in der Malerei, den jungen Caravaggio, in seinen Mailänder Lehrjahren beeinflusste.3

Deutlich über einhundert Jahre später hat sich das explosiv entwickelnde Barock schon längst zu einem Gesamtwerk verschiedenster Kunstgattungen gemausert und erlebt mit der Karlskirche eine seiner glanzvollen Höhepunkte und damit beinahe eine Wiederauferstehung Karls, der bereits 1610 heilig gesprochen wurde. Im 18. Jahrhundert tritt das Barock in einem sich verändernden geistigen Umfeld bereits in seine „finale Phase“. Europa wird zunehmend erfasst von den Gedanken der Aufklärung, die bisher existierende Weltbilder und damit auch gesellschaftliche Machtgefüge immer mehr in Frage stellen wird. Die österreichische Monarchie war in dieser Zeit als europäische Großmacht bestrebt, ihr weitreichendes Konglomerat verschiedenster Länder als unteilbar zu manifestieren, wozu die 1713 erlassene Pragmatische Sanktion dienen sollte, die über 200 Jahre galt.

Wenn wir uns gemeinsam dem Bauwerk nähern, treffen wir auf ein Ensemble von Weltkunst, welches trotz seiner unterschiedlichsten Bestandteile wohltuend harmonisch wirkt.

Der Mittelbau zeigt sich mit der Kuppel im klassischen kirchlichen Barock geprägt durch schwungvolle Eleganz. Zugleich erblicken wir als Portikus im Zentrum jedoch einen griechisch-römischen Tempel, der in würdevoller Strenge den oben bereits zitierten weltlichen Machtanspruch der Habsburger zum Ausdruck bringt. Die Durchfahrten der seitlichen Glockentürme nehmen die Formen römischer Triumphbögen auf, gekrönt mit asiatisch wirkenden Pagodendächern.4 Diese Triumphbögen wiederum korrespondieren mit den beiden Säulen vor dem Bauwerk. Säulen, die an die Trajanssäule in Rom erinnern. Aber selbst diese staatstragenden Bauelemente aus der antiken Welt werden besetzt von kirchlicher Symbolik und an exponierten Stellen vor allem vom Namenspatron Karl. Auf den Säulen ist als Relief das Leben Karls nachempfunden, auf der Giebelspitze über dem Haupteingang erhebt er sein Gebet für die leidenden Pestkranken. Die gekonnte Durchdringung kirchlicher und weltlicher Symbolik passt zum umfassenden Anspruch des Bauwerkes. Der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, der sich 1714 in Wien aufhielt, soll zusammen mit dem Hofantiquar Carl Gustav Heraeus auf das komplexe allegorische Programm Einfluss genommen haben, auf die Herausforderung, ein Denkmal dynastischer Größe mit einem Kirchenbau zu verknüpfen.5 Das Fantastische an diesem Bau ist die bereits angedeutete, in phänomenale Kunst geformte Geschichte: Außen begegnen wir Darstellungen der grauenvollen Pest und der Hoffnung auf ihr Ende. Die Einlösung der Hoffnung entwickelt sich im Innenraum.6

Der Teil der Kirche unmittelbar hinter dem klassischen Portikus erinnert nach dem Betreten zunächst an das festliche Vestibül eines weltlichen Stadtpalais. Ein unwiderstehliches Licht und eine starke innere Sogwirkung zieht mich jedes Mal dann weiter in den wahrhaft atem-beraubenden sakralen Raum, der ellipsenförmig angelegt ist. Ich weiß bis heute nicht, was mich mehr überwältigt: Ist es die besondere Ausstrahlung des am anderen Ende des Raumes befindlichen Hauptaltars oder das, was sich über mir in 74 Meter Höhe als himmlisches Fresko scheinbar unendlich erhebt. Mich ergreift diese Raumwirkung, es sind Momente, in denen ich durch Schönheit und die künstlerische Leistung von Menschen sehr demütig werde. In der Karlskirche stehe ich jedes Mal staunend vor dieser Schöpfung. Ich bin klein in diesem Ensemble aus Licht, Festlichkeit, Erhabenheit und einfach nur genialer Kreativität. Langsam gehe ich mit Unterbrechungen zum Altar, jede Sekunde in diesem Raum die besondere Atmosphäre aufsaugend und staunend wie ein kleiner Junge, der diese Welt entdeckt.

Geschaffen wurde die Karlskirche unter einem der großen Architekten des österreichischen Hochbarock, Johann Bernhard Fischer von Erlach, der allerdings während der Bauzeit starb, so dass sein Sohn Josef Emanuel nach seinem Tod 1723 vollendete und vor allem im Innenraum von den Plänen seines Vaters abwich. Während der Hauptaltar noch klassisch barocken Prinzipien folgt, atmet das Innere der Kuppel mit dem krönenden Deckenfresko bereits die festliche Leichtigkeit des Rokoko.

Hinsichtlich des Zusammentreffens vergoldeter Lichtstrahlen mit Marmorskulpturen erinnert mich der Hauptaltar an die berühmte Verzückung der Heiligen Theresa in der kleineren Cornaro-Kapelle der Kirche Santa Maria della Vittoria in Rom. Letztere wurde bereits im 17. Jahrhundert geschaffen von einem der innovativsten Architekten und Bildhauer des Frühbarocks, von Gian Lorenzo Bernini. Mein Eindruck ist sicher kein Zufall, denn der Architekt Johann Bernhard Fischer von Erlach weilte im späten 17. Jahrhundert 15 Jahre in Rom. In dieser Zeit lernte er die Pläne bzw. Entwürfe Berninis kennen7, konnte seine Skulpturen, Altäre, Brunnen und Bauwerke eingehend studieren und stand auch im Kontakt mit ihm. Die wichtigste Skulptur im Zentrum des Wiener Alters ist erneut der Heilige Karl, der im Vergleich zur emotional vollkommen hingerissenen Theresa in Rom vergleichsweise gemäßigt in den Himmel fährt. Die beabsichtigte große Emotionalität, die mitreißende Berührung des Betrachters aus dem frühen römischen oder neapolitanischen Barock hat sich im Laufe der Jahrzehnte ohnehin abgeschwächt, ist aber nie verloren gegangen. Zu gut wussten kirchliche und weltliche Herrscher, und letztendlich heute im Kleinen sogar clevere Werbeprofis, dass Botschaften – zum Beispiel verkörpert durch Malerei oder Skulpturen –, die den Beobachter auf seiner Gefühlsebene erreichen, besonders beeindrucken und nachhaltig beeinflussen. Die Art und Weise wie das Barock die Vermittlung wichtiger Informationen in Kunstbotschaften manifestiert bleibt dabei jedoch einzigartig und auf künstlerischem Niveau in vielerlei Hinsicht nie wieder erreicht.

Das wird mir umso klarer, wenn ich irgendwann endlich meinen Blick vom Altar zurücknehme und in den „Himmel der Karlskirche“ blicke, in die ovale Kuppel des schwindelerregend hohen Raumes. Auf dem Weg „in den Himmel“ streifen meine Augen perfekt ausbalancierte Strukturen von Marmor, Stuck und Vergoldungen in einer einzigartigen, aber nie übertriebenen Komposition. Auf beiden Seiten des Kirchenraumes flankieren zwei kleine Kapellen jeweils eine größere. Dieser sakrale Raum ist sogar an einem Novembertag hell durch die höher angeordneten großen Seitenfenster und die Hochfenster im Tambour. Mein Blick verliert sich irgendwann in dem atemberaubenden Deckenfresko von Johann Michael Rottmayr, welches das Votivthema erneut aufgreift. In meinem Kopf konkurrieren Faszination und Nachdenken. Unter welchen Bedingungen wird der Künstler in dieser Höhe ein solches Werk geschaffen haben?

Als Rottmayr 1725 mit dem Fresko begann, war er bereits über 70 Jahre alt. Er erschuf das gesamte Werk bis zu seinem Tod innerhalb von 5 Jahren – es wurde die vielleicht bedeutendste Arbeit seines Lebens. Ich finde das mit Blick auf unsere heute nach wie vor gerne propagierten „Leistungsgesellschaften“ erstaunlich. Wie schnell gehören leider immer noch häufig ältere Menschen, die gerne weiter in ihrem Arbeitsleben aktiv etwas beitragen wollen „zum alten Eisen“? Sind nicht Beispiele wie Rottmayr oder gar der legendäre Michelangelo Anlass genug, heute noch umfassender dem Erfahrungsschatz und der damit einhergehenden, oft unbezahlbaren Intuition sogenannter „älterer Mitarbeiter“ deutlich mehr Respekt entgegenzubringen und diese Menschen ohne Vorurteile aktiv einzubinden? Für Rottmayr muss sein letztes Deckenfresko viel bedeutet haben, sonst wäre er wohl kaum in diesem Alter jeden Tag die Gerüste bis in mindestens 60 m Höhe hinauf gestiegen.8 Hätte ihn seinerzeit jemand „aussortiert“, gäbe es nicht dieses atemberaubende Fresko, welches eine Kuppelfläche von über 1200 m2 bedeckt. Zum Fresko können Sie übrigens heute bequem mit einem Panorama-Lift gelangen, ein Erlebnis der besonderen Art inklusive einer beeindruckenden Aussicht über die Dächer Wiens.

Im Zentrum dieses Freskos erhört Gott die Bitte des heiligen Karl um das Ende der Pest. Wie sehr wünschen wir uns gerade jetzt, die Belastungen durch die Corona-Zeit zu überwinden. Wie sehr müssen aber die Menschen vor über drei Jahrhunderten das Ende der Pest herbeigesehnt haben in einer Zeit, die zu mindestens für die breite Masse noch weit entfernt war von heutigen hygienischen Standards und medizinischen Möglichkeiten.

Rottmayrs Werk eröffnet kraftspendende Perspektiven. Und Menschen brauchen Perspektiven, werden sie mit Hilfe der Kunst aufgezeigt, wirken und stärken sie umso nachdrücklicher. Vielleicht passten deshalb die zwei riesigen, vorübergehend im Kirchenraum schwebenden kugelförmigen Skulpturen der Installation „Aerocene“ des argentinischen Gegenwartskünstlers Tómas Saraceno auch so gut zum optimistischen Gesamtensemble. Nicht nur, dass wir uns in ihnen spiegeln konnten und der Dialog zeitgenössischer Kunst mit dem Barock als sehr gelungen bezeichnet werden kann. Durch den Antrieb mit Sonne und Luft sollen solche ballonartigen Gebilde große Distanzen emissionsfrei zurücklegen können. Damit sind sie für den Künstler auch ein praktisches Experiment für umweltschonende Transportmittel der Zukunft.9

Ohnehin erwartet die Besucher der Karlskirche neben der Lösung der Tragödie spätestens im Innenraum die Atmosphäre einer heiteren, beinahe schon hedonistisch inspirierten Festlichkeit, die einfach nur betört und die man immer wieder sehen möchte. Die Kraft des sakralen und weltlichen Barocks kompensiert gerade in diesen angespannten Zeiten ungemein. Die Karlskirche beseelt letztendlich auch abseits aller tiefgehenden Interpretationen oder Religionszugehörigkeiten mit Gänsehautmomenten.

Ich lade Sie ein, die barocke Kunst Europas bewusst zu genießen und das Leben als Geschenk zu feiern! Die KunstBotschaften des Barock verkörpern, wie fragil es ist. Ja, und vielleicht können wir einmal gemeinsam in der Wiener Karlskirche staunen...

Fußnoten:

1 Stefan Lakonig, Begleitheft für Besucher der Karlskirche, herausgegeben von: Verein der Freunde und Gönner der Wiener Karlskirche, 2015, S. 5.
2 Die Welt der Habsburger.
3 Sebastian Schütze, Caravaggio, Das vollständige Werk, Taschen-Verlag, 2009, S. 23-24.
4 Stefan Lakonig, Begleitheft für Besucher der Karlskirche, S. 8.
5 Michael Pfandl, „Ewiger Ruhm und Gedechnuss“ Sepulkral- und Memorialbauten der frühen Neuzeit in den mitteleuropäischen Ländern der Habsburger, Diplomarbeit, Universität Wien, 2008, S. 94.
6 Stefan Lakonig, Begleitheft für Besucher der Karlskirche, S. 18.
7 Christiane Edelmann, Zur Fassade des Palais Schönborn-Batthyány in Wien von Johann Bernhard Fischer von Erlach, in: Schriftenreihe der Winckelmann-Akademie für Kunstgeschichte München, Textbeitrag Nr. 26, 2017, S. 3.
8 Barocke Bauwerke im Süddeutschen und Schweizerischen Raum, ihre Bauherren und Meister.
9 KUNSTFORUM International.