In der Nürnberger Oberen Schmiedgasse wird man sich anfangs der historischen Bedeutung des ehemaligen Felsenkellers nicht bewusst. Die Fassade ließ nicht verraten, was unter und hinter seinen Mauern bis zu 24 Meter tief jene Zeit behütet wurde. Ich begann die perfekten Konturen seiner Gemäuer zu beobachten und die saubere Luft, die seit Jahren vom Rauch und Hass befreit sind, einzuatmen. Allein der Gedanke, dass Veit Stoß, der bedeutendste Bildhauer der Spätgotik, in dieser Stadt seine letzten Tage verbrachte und sein berühmtestes Kunstwerk zwischen diesen Steinmauern jahrelang geschützt wurde, sorgt für eine eigenartige Atmosphäre, wo sich dunkele Schatten in helle Erinnerungen umwandeln. Stoß lebte zwischen 1447 und 1533 und hatte eine besondere Beziehung zu seiner Wahlheimatstadt Nürnberg. Seine Werke waren vielerorts in Europa bekannt: Nürnberg, Krakau, Bamberg, Florenz und Breslau. Jedoch blieb die bayerische Stadt der Ort, wo er verwurzelt war. Das Herzogtum Bayern erkannte ihn als Künstler aber auch als prominent, da er mit einer adligen Familie verwandt war.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden viele Situationen und Entscheidungen nicht nur präzise, sondern auch systematisch geplant. Da die SS und Wehrmacht die besetzen Zonen schon unter Kontrolle hatten, wurde befohlen, dass die wertvollsten Kunstwerke, beschlagnahmte und in legalem Besitz, ab 1939 aus ganz Europa, an sichere Orte abtransportiert werden müssen.Hitler hatte immer noch die Vorstellung ein Museum mit den schönsten Kunstwerke aller Zeiten für sich zu haben. Das Führermuseum in Linz, in Wirklichkeit existierte es nie, sondern blieb nur ein Projekt, in dem die aufgesammelten Kunstwerke in die Ruhe eines Ausstellungsraumes nicht untergebracht wurden, sondern in der Kälte der verschiedenen Bunker, die dafür extra gebaut waren, ewige Zeit warteten. Einer dieser Bunker war der heute sogenannte „Historischer Kunstbunker“ der Oberen Schmiedgasse in Nürnberg. Dort wurden viele Meisterwerke behütet aber auch eine der wertvollsten Sehenswürdigkeiten Krakaus; der Hochaltar aus der Krakauer Marienkirche, aus der Feder von Veit Stoß. Dort hatte er einen besonderen Platz.
Hans Frank war Generalgouverneur der polnischen Gebiete und entschied, wahrscheinlich mit der Militärbefehlshaberschaft und Kajetan Mühlmann - Sonderbeauftragter für den Schutz und die Sicherung von Kunstwerken in den Ostgebieten - das Schicksal des Kunstwerkes. Es sollte in die Region des Künstlers gebracht werden; nämlich Bayern bzw. Nürnberg. Mühlmann kannte prinzipiell aus der deutschen Geschichte die Beziehung zwischen Stoß und Nürnberg. In dieser Stadt verbrachte der Bildhauer die längste Zeit seines Lebens und bekam die formvollendeten Lebenserlebnisse, die bestbezahlten Aufträge aber auch die unbegnadigte Strafe des Stadtrates; das öffentliche Durchbohren seiner Wangen mit einem glühenden Eisen als Zeichen der Schande wegen eines Finanzdeliktes.
Stoß schuf den größten Schnitzaltar der Spätgotik in zwölf Jahren. Der Auftrag kam durch die enge familiäre Beziehung zwischen den Wittelsbachern aus dem bayerischen Herzogtum und den Jagiellonen, dem königlichen Geschlecht der Polen und Gründer der Rzeczpospolita Obojga Narodów. Auch wenn er zu der Zeit sehr jung war, wurde er bestimmt in diesen Jahren reifer und bedenklicher, was Gott, Gnade, und Gottesliebe angeht. Denn zwölf Jahre Arbeit bedeuten sehr viel Zeit und vor allem, wenn man sich mit geistigen und heiligen Angelegenheiten des eigenen Glaubens beschäftigt. Die wahrscheinlich nachträgliche Inspiration kann man in seinen Werken in jeder Einzelheit aufspüren. Die Ausdrücke der Figuren sind so real, dass man die längere Verarbeitungszeit versteht. Auch ein Grund für die umfangreiche Arbeitsperiode war die Vorbereitung der Materialien. Zu der Zeit wusste man schon, dass frisches Holz eine ungewöhnliche Wassermenge enthält. Aus diesem Grund ließen seine Assistenten die Linden- und Eichenbaumstämme bis zu fünf Jahre trocknen. Nur unter diesen Bedingungen traute sich der Künstler überhaupt, die zum Teil über 2,7 Meter hohen Figuren zu schnitzen.
Veit Stoß hätte sich bestimmt nicht vorgestellt, dass sein Meisterwerk Grund für einen Konflikt sein könnte und vor allem, dass es für mehrere Jahre in der Stadt, wo er gestorben war, aufbewahrt werden würde, um vor dem Bombardements eines Krieges geschützt zu werden. Riesige Holzkarren mit Stahlrädern trugen die heiligen Figuren - Maria, Jesu, St. Stanislaus und St. Adalbert – die schweren auseinandergebauten Innen- und Außenflügel, Reliefs und den Hauptschrein durch die Flure des Bunkers, um sie vor Feuer, Trümmer, Bomben und Plünderung zu schützen.
Die Bergungskisten sind immer noch mit einer alten schwarzen Druckschrift beschriftet und ich höre nicht auf, sie anzuschauen, mit der Hoffnung ein weiteres Detail zu entdecken. Der dreizehn Meter Hochaltar war tatsächlich komplett abgebaut, in den Räumlichkeiten, wo ich mich befand.
Ein historisches Ereignis, dass das Meisterwerk 450 Jahre nach seiner Anfertigung in die Stadt des Künstlers verlegt wurde. Gleichzeitig ist es auch ein glückliches Schicksal für die Kunstgeschichte Europas, denn es blieb unbeschadet. Langsam ging ich Richtung Ausgang zurück, dabei blickte ich nochmal auf das kleine Büro am Ende des Ganges, mit einem echten Schreibtisch und Stuhl aus der Zeit, zurück. Ich biege links ab und das Licht der Straße blendet mich, dabei überlege ich, dass alle abgebauten Teile des Kunstwerkes nach dem Krieg, 1946, den gleichen Weg gegangen sind, um auf dem Wawel – Residenz der polnischen Könige - restauriert zu werden.