Besonders in diesem für viele Menschen so aufreibenden Jahr habe ich das Gefühl, wie wichtig für unsere Welt friedliche und tatsächlich besinnliche Weihnachten sein können. Für mich ist Weihnachten ein Fest der Liebe, an dem ich mich auch mit großer Dankbarkeit an meine wunderbare Zeit als Kind in meinem Potsdamer Elternhaus erinnere. Dabei begleiten mich bis heute Bilder voller Zauber, Bilder einer Weihnachtsgeschichte, die neben dem Christstollen und Schnee entscheidend durch die alten Meister und ihren Werken zur Geburt Christi geprägt wurden. Insbesondere das Thema der Anbetung des Neugeborenen durch die Hirten berührt mich immer wieder.
Vielleicht wird sich der eine oder andere fragen, ob die Weihnachtszeit nicht überbewertet wird oder wozu wir heute überhaupt noch alte Meister in der Kunst brauchen.
Selbst für nicht religiöse Menschen bietet die Weihnachtszeit weit mehr als ein kurzes Durchatmen nach dem bisher üblichen Jahresendstress. Entscheidend ist, was wir daraus machen.
Ab Ende Dezember werden die Tage wieder länger, Kerzen und das Licht des Neugeborenen symbolisieren aber bereits jetzt Kraft und Hoffnung auf leichtere Zeiten. Gerade für 2021 können wir davon nicht genug bekommen.
Ich lade Sie ein, auf phänomenale Meisterwerke zur Geburt und Anbetung Christi zu schauen. Das Thema ist in der Geschichte der Kunst über Jahrhunderte präsent und entfaltet eine beinahe mystische Schönheit im Barock, aus dem ich Ihnen drei hochkarätige Beispiele präsentieren möchte.
Auf dem anstrengenden Weg zu einer vom römischen Kaiser Augustus angeordneten Volkszählung trafen Joseph und Maria nur auf überfüllte Herbergen. Für Maria, die hochschwanger war, schien sich die Situation dramatisch zu entwickeln. Lediglich ein Stall blieb ihnen als Unterkunft, in dem Maria ihren Sohn in Bethlehem gebar. Schließlich verkündete ein Engel den Hirten die Geburt des Messias. Die Geburtsszene wird später u.a. durch die Anbetung der Hirten erweitert.1 Ein Ochse und ein Esel teilten sich mit Maria und dem Neugeborenen den Stall und werden Zeuge der Menschwerdung Gottes.
Wer durch die großen Museen der Welt wandelt, kann das Thema in unterschiedlichsten Interpretationen durch Künstler über zahlreiche Jahrhunderte entdecken. So z.B. in der National Gallery London, der ich erneut sehr für die Unterstützung mit Bildmaterial danke. Bis in die Renaissance hinein erscheinen uns aus heutiger Sicht die Beteiligten der Handlung oft noch etwas starr dargestellt wie z.B. bei der Geburt von Piero della Francesca aus der Zeit kurz nach 1470. Mit Künstlern wie Sandro Botticelli und seiner Mystischen Geburt von 1500 gelangt zunehmend Bewegung und Lebendigkeit in die Darstellungen.
Im 16. Jahrhundert kommt es nach den Glanzzeiten der Renaissance und tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüchen zu einer Krise in der Kunst. Künstler suchten neue Wege, die in den sogenannten Manierismus mündeten, einer Abkehr von den ausgewogenen Proportionen der Renaissance. Typisch werden in dieser Übergangsphase in ein neues Zeitalter der Kunst z.B. verlängerte Gliedmaßen bei der Darstellung von Personen. Dies führt zu teilweise ungewöhnlichen Gesamterscheinungen. Ein Vertreter der manieristischen Malerei war Polidoro Caldara da Caravaggio, der mit seiner Anbetung der Hirten von 1533 in Messina auch ein Werk zu unserem Thema hinterlassen hat. Dieser Künstler ist ein heute zu Unrecht beinahe vergessener Mann. Vergessen? Caravaggio? Ja, es geht nicht um den berühmten Barockstar der Malerei. Auf den schauen wir gleich. Es geht um einen Mann, der ca. 70 Jahre früher lebte und dessen Werdegang im gewissen Sinn ebenfalls tragisch überschattet war wie der des späteren Caravaggio. Beide sind im Ort Caravaggio in der Lombardei geboren, beide hatten ein kurzes Leben und kamen durch Flucht nach Messina und von beiden finden wir hier bis heute ihre jeweilige Interpretation der Anbetung der Hirten.
Während Polidoro da Caravaggio 1543 nach erfolgreichen Jahren in Messina gewaltsam durch Mord aus dem Leben gerissen wurde, hielt es Michelangelo Merisi da Caravaggio, genannt Caravaggio, in Messina nur ungefähr acht Monate. Er arbeitete dort – erneut auf der Flucht – unter bedrohlichen existenziellen Rahmenbedingungen.2 Für einen umfassenderen Blick auf das atemberaubende Leben dieses Künstlers verweise ich auf mein Essay „Gefühl und Gewalt – Explosion Caravaggio“. Die Energie seiner Werke erfasst mich bis in die kleinste Pore. Unter anderem seine Kunst wird zu einem Auftaktfeuerwerk für ein Zeitalter, welches als Barock Unsterblichkeit erlangen wird. Meine direkte Begegnung mit seiner „Anbetung der Hirten“ von 1609 im Museo Regionale di Messina, wo auch das gleichnamige Werk des vorgenannten Polidoro hängt, werde ich nie vergessen. Ich kenne nur wenige Maler, welche die Brandbreite von Emotionen so beherrschen wie Caravaggio. Die Einfachheit der Darstellung fokussiert wie mit einem Spot auf die Innigkeit der Verbindung zwischen der Maria und dem Neugeborenen. Im Unterschied zu vielen anderen Darstellungen vor und nach Caravaggio strahlt Jesus Christus hier weniger von sich aus. Maria scheint völlig in diesen einmaligen Moment versunken, auf einem nur dürftig mit Stroh bedeckten Stallboden. Anmut und Liebe strahlen in einem Umfeld, welches an Kargheit nicht zu überbieten ist.
Maria selbst trägt ein leuchtend rotes Kleid und einen schwarzblauen Mantel. Das Jesuskind ist lediglich in Windeln gewickelt. Beide beherrschen die linke untere Ebene des als Hochaltarbild für eine Kapuzinerkirche geplanten, mit 3,14 x 2,11 m riesengroßen Werkes.3 Einzigartig gestaltet Caravaggio die gesamte Komposition, in dem vom Kopf der Maria eine bildbeherrschende Diagonale nach rechts oben wandert über die Köpfe der anbetenden Hirten und des heiligen Joseph, der vorn rechts in einen ockerfarbenen Mantel gehüllt, zu sehen ist. Im dunklen Hintergrund sind schwach Esel und Ochse zu erkennen.
Wenn wir diese Anbetung der Hirten auf uns wirken lassen, bekommen wir in hektischen und aufgewühlten Tagen vielleicht noch einmal einen vollkommen anderen Blick auf Weihnachten. Steht ein solches Werk nicht auch für das Wunder der Schöpfung, für unser Menschsein? Bringt es nicht die Kraft der Liebe einer Mutter-Kind-Beziehung zum Ausdruck? Welche Rolle spielt unser Menschsein eigentlich im Zeitalter moderner Gesellschaften, die zunehmend digital werden und auf künstliche Intelligenz setzen? Stellen Sie einfach diesen Moment bei Caravaggio mit all seiner unter die Haut gehenden Sinnlichkeit und seiner Einladung zum Innehalten und Wahrnehmen der heute bekannten Konsumhektik vor Weihnachten gegenüber. Damit möchte ich niemand inspirieren, Weihnachten unbedingt im Stall auf dem Stroh zu verbringen. Aber sich zu besinnen, worum es Weihnachten wirklich geht und was faktisch heute daraus gemacht wird, schadet nicht.
Faszinierend ist der Vergleich der Anbetungen beider Caravaggios. Während das Thema bei Polidoro eher klassisch und farbenfroh verarbeitet wird, vermittelt die Szene beim „jüngeren“ Caravaggio eine atemberaubende Unmittelbarkeit, der Betrachter wird fast direkter Beteiligter am Geschehen. Genau dieses Erreichen und Mitreißen des Betrachters machte die Kunst Caravaggios so unwiderstehlich für die Gegenreformation. Teile des Klerus liebten Caravaggios Bilder und erkannten in ihnen dabei zugleich ein schlagkräftiges Mittel, die eigene Lehre zu propagieren. Wie in keinem anderen Zeitalter werden im Barock Emotionen auf der Leinwand inszeniert. Das Barock verkörpert die Macht der Bilder schlechthin. Ein Phänomen, welches uns bis heute begleitet, nun allerdings eher als fotografische Massenware und weniger als Kunst. Die Gegenüberstellung der Anbetungen in Messina zeigt insgesamt eindrucksvoll, welchen gewaltigen Schritt die Kunst vor und nach 1600 insbesondere mit Caravaggio ging.
Jedoch war Caravaggio nicht die einzige Triebkraft zum Barock. Er steht für den krassen Realismus, in dem er Heilige vom Himmel in den Staub römischer oder anderer Straßen transferiert, faktisch biblische Geschichten zum Anfassen schafft. Es gab aber noch eine andere Quelle. Während Caravaggio ursprünglich von Rom aus die Kunstwelt auf den Kopf stellt, entwickelte sich bereits eine mehr an der Klassik orientierte Richtung barocker Bilderwelten, die vor allem zunächst von Vertretern der Bologneser Familie Carracci geprägt wurde. In diese klassische Richtung bewegte sich auch Guido Reni, der unter anderem in Bologna und Rom wirkte.
Reni malte kurz vor seinem Tod zum Thema Anbetung der Hirten noch ein extrem großes Altarbild mit einer Höhe von knapp 5 Metern. Bemerkenswert ist seine Interpretation gerade in der Gegenüberstellung zu Caravaggio. Im Mittelpunkt steht natürlich erneut Maria mit dem Neugeborenen. Wie bei vielen anderen Darstellungen strahlt das Licht des kleinen Jesuskindes fast magisch auf die umstehenden, staunenden Hirten. Reni taucht die Gesamtkomposition in nächtliches Blau. Im Vergleich zu Caravaggio ist die Szene insgesamt zwar lebendig, allerdings weniger unmittelbar. Während Caravaggio Szenen aus dem menschlichen Leben wählt, orientiert sich Reni an klassischen Bildstrukturen, die hinsichtlich der figurativen und farblichen Gestaltung eher an Werke des Renaissancestars Raffael erinnern. Dadurch schafft Reni trotz aller Lebendigkeit eine gewisse Distanz zur Heiligkeit des Geschehens. Die Idealisierung des Themas wird bei ihm noch gesteigert durch die am Himmel tanzenden Putten, die die Wolkendecke öffnen, um auch noch himmlisches Licht auf die Szene wirken zu lassen.
Ein weiterer Vertreter der klassischen Richtung des Frühbarock ist der legendäre Franzose Nicolas Poussin. Wie die vorgenannten Künstler wirkte auch Poussin im Labor für die barocke Kunst schlechthin, in Rom. Seine Erfahrungen, die er dort sammelte, lässt ihn heranreifen zu einem der größten Maler der französischen Kunstgeschichte. Auch Poussin nahm das Thema Anbetung der Hirten 1633 auf. Und auch er blieb bei den Bildstrukturen wie Reni insgesamt traditionell, bei ihm unterstreichen ebenso fliegende Putten die Bedeutung der Geburt des Messias. Interessant ist, dass Poussin keine Nachtszene wählt, sondern die Anbetung ins Tageslicht stellt. Alles ist im Sinne des sich entwickelnden Barock in Bewegung und kann beim Betrachter intensive Gefühle erzeugen. Die heftige Konfrontation dieses Betrachters mit dem Geschehen und seiner Bedeutung ohne idealtypische Zutaten wie bei Caravaggio wählt jedoch auch Poussin nicht.
Sowohl Caravaggio als auch die eher an Traditionen ausgerichteten Vertreter des Frühbarock haben zahlreiche künstlerische Erben. Mit Blick auf die Kunst zählt für mich vor allem, was berührt und bereichert. Das kann das Barock. Es manifestiert eindrucksvoll den Reichtum europäischer Geschichte, in dem es thematisch vor allem auf die antiken Mythen und die biblischen Erzählungen abstellt. Vor diesem Hintergrund kann es uns mit kulturellen Wurzeln unserer Zivilisation verbinden. Bekommen wir zu ihnen Zugang, können wir vor allem auch die Welt heute deutlich besser verstehen. Zudem beinhalten derartige Kunstwerke zeitlose, bereichernde Weisheiten die wir uns gerade jetzt wieder bewusst machen können.
Dazu gehört das Besinnen an Weihnachten. Nicht nur weil es religiöse Traditionen gibt, sondern auch, weil unser Biorhythmus für ein Entschleunigen bzw. Innehalten in den dunklen Tagen sehr dankbar sein wird. Die Kunst zur Weihnachtszeit könnte auch gesehen werden als Hoffnung stiftende, kulturelle Antwort auf die dunkelste Zeit des Jahres, die für Menschen in der breiten Masse in den vergangenen Jahrhunderten sehr entbehrungsreich war. Insbesondere das Betrachten der Anbetung der Hirten kann eine Besinnlichkeit an Weihnachten unterstützen. Für mich stehen gerade die barocken Interpretationen des Themas für ein Gefühl von Harmonie, Geborgenheit, Liebe, Demut vor der Schöpfung und – vor allem unterstrichen durch das oft zu findende magische Licht in der Dunkelheit – für Hoffnung und Zuversicht. Und brauchen wir nicht alle gerade jetzt viel Zuversicht? Ich wünsche mir für uns alle ganz viel davon!
Fußnoten
1 Die Geburtsszene wird zunächst durch die Anbetung der Hl. Drei Könige und später auch durch die Anbetung der Hirten (vgl. Luk. 2,8-17) erweitert.
2 Sebastian Schütze, Caravaggio, Das vollständige Werk, Taschen Verlag, Köln 2009, S. 211 und 217.
3 Sebastian Schütze, ebenda, S. 215.