Küssen Sie gerne? Ich vermute schon. Ein Kuss ist natürlich nicht einfach ein Kuss. Aber wem sage ich das? Sicher, es gibt kleine Bussis und nette Küsschen. Es gibt auch Freundschaftsküsse. Und natürlich sehr intime, die uns weit mehr berühren können als Sex. Es gibt dabei sogar weltberühmte Küsse für die Ewigkeit, die Vieles in sich vereinigen und vielleicht sogar für noch mehr stehen.

I. Wien – Explodierende Metropole im Fin de Siècle

Der Kuss von Gustav Klimt gehört nicht nur zu den größten Werken der internationalen Kunstgeschichte. Bis heute haftet ihm eine unverwechselbare, magische Ausstrahlung an. Er steht als großes Symbol für eine faszinierende Bewegung, deren Bedeutung wir nicht hoch genug einschätzen können und die sich nicht nur auf die Kunst beschränkte: Die Wiener Moderne.

Diese Wiener Moderne ist eng verknüpft mit der vielleicht radikalsten und einflussreichsten der drei großen geistigen Revolutionen. So der Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Eric Kandel, der sich auf Freud stützt. Diese Freud’sche Revolution stelle nach der kopernikanischen Revolution im 16. und der Darwin’schen im 19. Jahrhundert ein Meilenstein dahingehend dar, wie wir uns als Menschen und unseren Platz im Universum sehen. 1

Dieser Meilenstein und die daraus erwachsene vollkommen neue Kunst stellt das Irrationale unserer geistigen Prozesse in den Mittelpunkt und ist damit hinsichtlich heutiger tiefgreifender gesellschaftlicher und politischer Veränderungen hochaktuell.

In diesem Jahr begehen wir die 100. Todestage von Galionsfiguren der Wiener Moderne. Unglaubliche Künstler, die im Schicksalsjahr 1918 innerhalb weniger Monate starben: Gustav Klimt, Otto Wagner, Koloman Moser und Egon Schiele. Mit dem Tod dieser Männer ging die Wiener Moderne faktisch unter.

Wie entwickelten sich Klimt und die Wiener Moderne bis zu diesem Kuss für die Ewigkeit? Welches waren ihre bahnbrechenden Erneuerungen? Was kann uns heute ein über 100 Jahre alter Kuss geben? Wie kann uns die Wiener Moderne überhaupt bereichern?

Im 19. Jahrhundert werden nach England nun auch die entwickelten Staaten Kontinentaleuropas von gewaltigen technischen Umbrüchen erfasst. Über weite Teile des Kontinents bricht die Industrialisierung mit voller Wucht herein. Innerhalb weniger Jahrzehnte oder manchmal nur Jahre verändert sich das Leben vieler Menschen radikal. Überlegen Sie, das 18. Jahrhundert kannte auf dem Festland noch nicht die gigantischen Effekte einer Dampfmaschine, welche die gesamte menschliche Produktion revolutionieren wird. Mit dieser Maschine dynamisierte sich nicht nur die Herstellung von Gütern, es entstand auch eine immer größere Produktvielfalt. Dampfzüge und -schiffe verbanden auf einmal Menschen, die sich zuvor nie begegnet wären. Eine ungeheure Verstädterung setzte ein. Ab ungefähr 1850 verbreiterte sich die Fotografie und die elektrische Telegraphie. Europa überschlug sich! Ähnlich wie heute an der Schwelle zum Digitalzeitalter wurde alles rasanter, viel schneller und unberechenbarer. Der Faktor Zeit, der bis zum Vorabend der Französischen Revolution im Alltagsleben der Landbevölkerungen kaum eine Rolle spielte, wurde nun zum entscheidenden Maßstab im Leben. Bis heute, Bedeutung zunehmend! Dieser atemberaubende Prozess erfasst – wenn auch verzögert – den Vielvölkerstaat unter der Monarchie der Habsburger. Und er provoziert eine vollkommen neue Kunst!

Zwischen 1850 und 1900 vervierfachte sich die Bevölkerung Wiens explosionsartig auf über 2 Millionen Einwohner. Gründe dafür waren neben der Industrialisierung die Anziehungskraft der Donaumetropole im damals noch riesigen Vielvölkerstaat. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand das prachtvolle Wien – wie wir es auch heute noch kennen – mit seinen Ringstraßen-Bauten, den Palästen, Wohnhäusern, Rathaus und Oper. Wien wurde zugleich zum Magnet für Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler.

Vertreter dieser zuletzt genannten Gruppen wurden Träger der Wiener Moderne: Neben Gustav Klimt und den eingangs genannten Stars waren dies z.B. Carl von Rokitansky, Emil Zuckerkandl, Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Karl Kraus, Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Joseph Hoffmann, Adolf Loos und Oskar Kokoschka. Diese heterogene Bewegung entstand aus einem einzigartigen Zusammenspiel der Gruppen, welches wir heute vielleicht als besondere Form der Interdisziplinarität auf sehr hohem Niveau feiern würden. Dabei geht das Wiener Zusammenspiel wahrscheinlich noch weit über das momentan allseits vergötterte Silicon Valley hinaus. Es war mehr als eine auf den schnellen kommerziellen Erfolg abzielende Baustelle: Es entstand neben herausragenden wissenschaftlichen Leistungen auf einer mehr offenen „Spielwiese“ Weltkunst von unschätzbarem Rang.

Ein vergleichbar intensives Zusammenspiel gab es zu dieser Zeit weder in Paris noch in London, New York oder Berlin. 2 Wien war in den Jahrzehnten um 1900 eine globale Kulturhauptstadt. Als fruchtbare Treffpunkte galten neben den legendären Kaffehäusern, die Salons der Wiener Wirtschaftselite. Allen voran der von Berta Zuckerkandl, in dem 1902 der große Auguste Rodin auf Gustav Klimt traf. Vielleicht war dieses Treffen der entscheidende Auslöser für den späteren Kuss von Klimt, da Rodin an seiner gleichnamigen weltbekannten Marmorskulptur bereits ab 1880 arbeitete. Dennoch hat Klimt seine eigene bahnbrechende Entwicklung zum Kuss genommen.

Klimt, der 1862 als Sohn eines Goldschmieds in Baumgarten bei Wien auf die Welt kommt, konnte schon früh genial zeichnen. Und er macht das, was großen Erfolg bei Menschen bis heute unvermeidlich werden lässt: Er macht sein Ding! Über die Kunstgewerbeschule und eine Ausbildung zum Dekorationsmaler trifft er als junger Mann auf die etablierte klassische Salonkunst eines Hans Makart, den die Wiener als „neuen Rubens“ verehrten. Gerade nach dem Tode Makarts bekommen der an Popularität gewinnende Gustav Klimt und sein Bruder Ernst zunehmend Aufträge, insbesondere im Rahmen des Ringstraßen-Projekts. Hier bewegen sich die Künstler noch sehr an der klassischen Salonmalerei ausgerichtet, mit dem Mut an der einen oder anderen Stelle doch Akzente eines neuen Stils aufblitzen zu lassen. Herausragende Beispiele für den jungen Klimt finden Sie heute noch im Kunsthistorischen Museum in Wien. Zusammen mit seinem Bruder Ernst und Franz Matsch übernimmt er den Auftrag zur Erstellung eines malerischen Zyklus. Zu sehen sind bedeutende Stilepochen der Kunst, eingebettet in eine beeindruckende Arkadenarchitektur. Anlässlich des 100. Todestages 2018 zeigt das Kunsthistorische Museum Wien diese Werke bis Anfang September „hautnah“. Über die sogenannte Stairway to Klimt können Besucher in dieser Zeit 12 m über der Eingangshalle „schwebend“ die Werke bewundern. Gänsehaut inklusive!

Das Leben des noch jungen Klimt sollte 1892 eine dramatische Zäsur erfahren, die alles verändern wird, vor allem sein Blick auf das Leben und die Kunst: Zunächst starb sein Vater. Wenig später sein Bruder. Der erst dreißigjährige Klimt stürzte in eine tiefe Schaffenskrise, aus der er tatsächlich brillianter als zuvor zurückkehren sollte: Mit einer bahnbrechenden Kunst, die im Wien um 1900 zu einem fast zehn Jahre tobenden Skandal führen wird. Mehr über diesen vollkommen neuen Klimt und seinen aufregenden Weg in die Moderne gibt es in meinem folgenden Artikel im August.

Fußnoten

1 Eric Kandel, Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unterbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute, deutschsprachige Ausgabe, München, 2014, S. 34.

2 Eric Kandel, Das Zeitalter der Erkenntnis, S. 50.