Im Mittelpunkt der diesjährigen Sammlungspräsentation steht Giovanni Battista Piranesis (1720–1778) berühmte Folge von 16 Radierungen Carceri d’invenzione (Kerker der Phantasie) von 1761. Die Doppeldeutigkeit dieses Titels – man kann ihn als Gefangennahme der Imagination auffassen, aber auch als das Ausdenken von Gefängnissen – gibt Anlass zu allerhand Auslegungen. Auch die Darstellungen verleiten zu Spekulationen, findet sich in ihnen doch kein einziger abgeschlossener Raum, wie es sich von einem Gefängnis erwarten ließe. Stattdessen liefern sie den Betrachter einer Welt der Zwischenräume aus. Tore und Bögen, Treppen und Leitern führen in die Irre oder laufen gegen die Wand; wechselnde Perspektiven und Größenverhältnisse sorgen für fortwährende Irritationen; Innen- und Außenräume sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden.
Werke aus dem 19. Jahrhundert führen das Thema des Gefangenseins fort. Bei Francisco de Goya (1746–1828) erscheint der Kerker als Ort der Einsamkeit und existentieller Bedrohung. Für Honoré Daumier (1808–1879), der wegen seiner bissigen Karikaturen eine Zeitlang in einer Heilanstalt einsitzen musste, wird er zum Schauplatz des selbstironischen Widerstands, wohingegen Odilon Redon (1840–1960) die Abkapselung von der äußeren Welt als einen Schutzraum begreift, der das freie und traumhafte Imaginieren überhaupt erst ermöglicht.
Im 20. Jahrhundert greift Giorgio de Chirico (1888–1978) Piranesis Idee des paradoxalen Ineinandergreifens von Innen- und Außenraum wieder auf, um in seinen Bildern einen übergeordneten, „metaphysischen“ Ort zu etablieren, der für die Malerei des Surrealismus eine bedeutende Rolle spielte. Von den Zwängen der Realität entkoppelt, bot er ihnen einen neuen, „über-realen“ Spielraum. Hier ließen sich jenseits aller moralischen Normen die Verlockungen und Bedrohungen des Eros entdecken, das geheime Leben der Natur erkunden oder die absurden Verhältnisse eines französischen Internierungslagers schildern, wie in den Werken von WOLS und Hans Bellmer, die das Lagerleben in einer großen Ziegelei im französischen Camp des Milles behandeln.
Mit Rosemarie Trockels (geb. 1952) Wandarbeit Prisoner of yourself(Gefangener deiner selbst) von 1998 und Arnulf Rainers (geb. 1929) undatierter Selbstübermalung stehen sich schließlich die Werke zweier Zeitgenossen gegenüber, denen das eigene Ich zum Gefängnis wird. Hier ist es der Akt des Malens selbst, der den Künstler von der Realität abriegelt und letztlich auszulöschen droht – oder das Fortspinnen gesellschaftlich aufgezwungener Muster.