Als Anselm Reyle vor kurzem zum Tag der offenen Tür auf sein Anwesen an der Spree einlud, kam auch ich. Ich wollte seine Villa sehen, ich wollte baden, ich wollte umsonst essen und trinken. Über dreihundert Gäste waren gekommen, aus Berlin, aber auch von nebenan,und nebenan befandet sich die Wasserschutzpolizei. Und so kam es, dass ich in der Schlange vor dem Würstchen-Grill hinter zwei uniformierten Beamten der Wasserschutzpolizei anstand und das folgende Gespräch belauschte.
Beamter 1: „irgendwie geht es nicht so richtig voran, wir stehen doch jetzt schon fünf Minuten hier...“ Beamter 2: „Ja, mindestens...!“ „Du, schau mal, der Tisch mit dem Kartoffel-Salat ist mit Goldfolie belegt!“ „Stimmt!“ „Und ich will dir mal was sagen: Das ist dieselbe Folie, die der Reyle auch für seine Folienbilder verwendet!“ „Meinst Du?“ „Ich weiß es sogar! Wir waren doch gerade in seinem Atelier, und da hat man doch diese große Rolle mit der Goldfolie gesehen! Das ist die Folie!“ „Hm, wahrscheinlich hast du recht. Das ist schon lustig, dass er jetzt die gleiche Folie als Unterlage für die Würstchen nimmt...“ „Wie fndest du eigentlich die Sachen von Reyle?“ „Also, ich bin mir nicht so sicher, ich finde sie irgendwie immer sehr glänzend und sehr bunt, und irgendwie... oberflächlich...“ „Naja, schau mal, wir haben doch jetzt schon ein paar Mal mit ihm zu tun gehabt, grade wieder neulich, als er uns seinen Rasenmäher geliehen hat. Also, ich fnde ihn gar nicht oberflächlich.“ „Nein, schon klar, aber seine Kunst! Das ist alles sehr oberflächenfxiert!“ „Du verstehst das nicht! Er zelebriert die Oberfläche! Aber es ist so eine Art Über-Affrmation, die das alles auch wieder bricht, ironisch!“ „Ich weiß nicht...“ „Doch natürlich! Das ist so wie bei Warhol, du kennst doch seinen Satz: ‚Just look at the surface of my paintings, and there I am. There’s nothing behind it.’“ „Ja klar kenne ich den. Und das ist ja auch genau das, was ich meine!“ „Mensch, Jürgen, du verstehst das nicht! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Warhol das wirklich so gemeint hat!“
In diesem Moment drehten sich die beiden Beamten aus irgendeinem Grund zu mir um: Beamter 1: „Ähm, Entschuldigung, aber es geht hier nicht schneller voran in der Schlange, wenn Sie uns die ganze Zeit so komisch bedrängeln von hinten!“ Ich: „Ich mach doch gar nichts!“ Beamter 2: „Doch! Sie rempeln uns die ganze Zeit an, und schnaufen dabei so komisch!“ In diesem Moment kam Anselm Reyle vorbei, ich hielt ihn am Arm fest: „Sag mal, die Goldfolie hier bei den Würstchen, ist das eigentlich die gleiche, die Du auch für die Folienbilder nimmst?“ „Was? Ach so, die Goldfolie! Ich weiß gar nicht, warte mal, ich muss mal schnell rüber zu Johann, der kommt da grade mit Daniel Birnbaum mit dem Boot an! Bis gleich.“ Die Schlange am Würstchenstand hatte sich derweil kein Stückchen weiterbewegt. Die beiden Polizisten musterten mich noch einmal abfällig und tuschelten über mich. Dann setzten sie ihr Gespräch fort. Beamter 1: „Sag mal, hast du eigentlich die letzten Sachen von Reyle mal gesehen? Die Aquarelle?“ „Wie bitte, Aquarelle?“ „Richtig! Und zwar malt er doch jetzt seine Folienbilder ab, also diese zerknitterte Goldfolie. Und zwar super akkurat!“ „Aber warum? Warum malt Anselm Reyle Aquarelle?“ „Du erinnerst dich doch, als er grade seine Werkstatt hier eingerichtet hatte, so vor zwei, drei Jahren. Da bin ich doch rüber zu ihm, wegen der Teleskop-Heckenschere.“ „Ja, und?“ „Und da hatte er doch gerade seinen Rückzug aus der Kunstwelt proklamiert.“ „Ich erinnere mich, wir haben das Interview ja damals alle bei uns in der Wache gelesen...“ „Genau. Da hat er dann auch wirklich erstmal gar nichts mehr gemacht. Nur Rasen gemäht und den Garten angelegt und so was. Aber als ich dann bei ihm war, hat er mir auch erzählt, dass er jetzt – sozusagen heimlich, sozusagen wie Duchamp an seinem letzten Werk – an ganz anderen Sachen arbeitet.“ „Was denn?“ „Er hat angefangen zu töpfern.“ „Stimmt! Diese riesigen unförmigen Vasen!“ „Genau! Und er hat angefangen zu aquarellieren!“ „Töpfern und Aquarellieren, das ist schon stark!“ „Er hat sogar auch noch angefangen, Wandteppiche zu knüpfen...“ „Uff...“ „Ja, ich glaube, er wollte nach diesen ganzen Streifenbildern und Hochglanz-Skulpturen, da wollte er ganz woanders hingehen. Er wollte ganz bewusst dahin gehen, wo es schmerzt.“ „Was meinst Du?“ „Er wollte... in die Toskana gehen. Töpfern und Aquarellieren...“ „Verstehe...“ „Und trotzdem ist es auch wieder Reyle! Er hat sogar seine Signatur, die kennst Du ja, die besteht ja immer aus ein paar Farbklecksen und so einem kreisförmigen Abdruck, so als hätte er aus Versehen eine übergelaufene Farbdose auf sein Bild gestellt...“ „Klar, und?“ „Ja, also, diese Signatur hat er jetzt auch auf seinen Aquarellen, und zwar in Form eines Rotweinkreises, so als hätte er beim Aquarellieren ein gemütliches Glas Rotwein getrunken und das dann aus Versehen auf dem Aquarell abgestellt...“ „Hahaha, das ist einfach zu gut!“ „Ja, schon lustig, oder?“
An dieser Stelle hatte ich wirklich genug von diesen beiden neunmalklugen, überinformierten Polizisten. Ärgerlich verließ ich das Reyle-Anwesen und erlebte gerade noch, wie mein Auto, das ich im Blumenbeet der Wasserschutz-Polizei geparkt hatte, vom Abschleppdienst weggefahren wurde. Im Gegenlicht des Sonnenuntergangs sah ich in der Ferne Anselm Reyle auf seinem Bootssteg sitzen, eine Baskenmütze auf dem Kopf, wie er genüsslich ein Rotweinglas zum Munde führte und es dann ganz langsam auf einem der vor ihm ausgebreiteten Aquarelle abstellte.