In der Antike war der Dienstag dem Kriegsgott Mars gewidmet, auf Lateinisch bedeutet dies Martis „Tag des Mars“. Im Altenglischen ist der Tiw’s Day nach „Tíw“ benannt, dem Gott des Kampfes, des Rechts und der Gerechtigkeit in der nordischen Mythologie. Die Werte Arbeit, Wettbewerb und Stärke sind seit langem mit diesem zweiten Tag der Woche verbunden.
Die Künstlerin Camille Henrot interessiert sich dafür, wie tradierte Archetypen und Mythologien in den banalsten Sphären unserer gegenwärtigen Erfahrung verborgen sind und wie sie weiterhin unseren Alltag strukturieren. Ihr Film Tuesday sowie die Skulpturen Wait What und Defeated, die hier in der KÖNIG GALERIE zum ersten Mal in Deutschland zu sehen sind, wurden erstmals in der Einzelausstellung Days Are Dogs im Palais de Tokyo in Paris 2017–18 gezeigt, wo Henrot ihre Forschungen über die sieben Tage der Woche extensiv auslotete.
In Zeitlupe aufgenommen, verweben sich in dem zwanzigminütigen Film Szenen von Rennpferden, die vor einem Wettkampf gepflegt werden, mit denen von Männern, die das brasilianische Jiu-Jitsu (BJJ) ausüben. Wir sehen, wie Vollblüter für ein Rennen vorbereitet, gestriegelt und dekoriert werden. Die Kamera fokussiert dabei die Oberfläche der Haut der Tiere, welche, während sie in der Sonne gewaschen werden, wie bronzene Reiterstatuen schimmern. Im Gegensatz zu der Darstellung als Machtsymbole etwa bei historischen Statuen auf öffentlichen Plätzen oder auf Herrscherporträts werden diese Pferde jedoch in einem Moment der Ruhe vor einem Rennen gezeigt, ohne die Herrlichkeit des Sieges anzudeuten.
Henrots Kamera verfolgt auch die Körper der BJJ-Kämpfer, am Boden ineinander verzahnt, wie sie langsam und bedacht ihre Arme und Beine als Greifvorrichtungen in Stellung bringen. Sie bilden so einen ständigen Knoten, eine Einheit aus Kampf und Verhandlung. Ursprünglich aus Japan stammend und in Brasilien weiterentwickelt, zielt das BJJ darauf, den Gegner auf den Boden zu bringen und ihn zur Aufgabe zu zwingen. Bei diesem Austausch geht es nicht in erster Linie darum, die eigene körperliche Kraft auf den anderen zu übertragen. Vielmehr steht die Suche nach einer Balance im Vordergrund, in der sich die Kontrahenten in die Kraft des jeweils anderen einfühlen: Sie scheinen zwischen schnellen Bewegungen hin- und herzutanzen und in Positionen wie dem „Straight Footlock“, dem „Double Leg" oder dem „Toe Hold“ zu verharren. Die beiden Körper wechseln innerhalb des zehnminütigen Kampfes immer wieder von Positionen der Dominanz hin zu jenen des Angriffs und umgekehrt. Diese Elastizität der Rollen, das ständige Verschieben, das Aufheben von festen Positionen und Voraussetzungen im Machtsystem stehen im Mittelpunkt von Henrots Film.
Wie viele von Henrots früheren Arbeiten stellt auch dieser Film letztlich kanonische Tropen in Frage. Eine der überzeugendsten Szenen scheint dabei nur kurz auf: eine Hand, die ein Smartphone hält, auf dem ein Instagram-Post zu erkennen ist. Das Bild ist ein Diptychon, das das bärtige Gesicht eines Mannes in Bronze und das bärtige Gesicht eines der BJJ-Kämpfer nebeneinanderstellt. Der Kopf der Statue gehört dem Faustkämpfer vom Quirinal, der griechischen Skulptur eines sich nach dem Kampf ausruhenden Boxers, der noch seinen Cestus trägt, eine Art Lederhandwickel, der als Kampfhandschuh im Pankration Verwendung fand. Der Pankration ist eine mit bloßen Händen ausgeführte Kampfsportart, die 648 v. Chr. als Disziplin der griechischen Olympischen Spiele eingeführt wurde. Entscheidend ist, dass der Boxer hier in einem Moment der Ruhe dargestellt wird, all die Spuren und Narben seiner vorangegangenen Kämpfe werden offenbart.
Zusammen mit den beiden Begleitskulpturen Wait What (der Bronzeskulptur einer scheinbar erschöpften oder schlafenden kopflosen Katze, deren Körper auf einer weißen Harzsäule ruht und deren Gliedmaßen, Schwanz und Torso völlig entspannt scheinen) sowie Defeated (einem abstrakten weißen Ledergebilde, das von einem Aluminiumkörper am Boden gehalten wird) spiegelt die Arbeit Tuesday die Schönheit des Kampfes wider, ohne die dazugehörigen Qualen auszublenden. In Tuesday geht es nicht um die Feier eines Kämpfers als Gewinner. Nur in wenigen kurzen Momenten sehen wir, wie einer der Kontrahenten sanft auf den Körper seines Gegners klopft und so seine vorübergehende Aufgabe signalisiert. Ebenso bekommen wir am Ende des Films nur kurze Szenen präsentiert, in denen die Pferde auf der Rennbahn laufen, sehen aber nie den Moment, in dem das siegreiche Pferd die Ziellinie erreicht; stattdessen erhalten wir einen flüchtigen Einblick in die gewaltsame Praxis des wettkampforientierten Bereitens von Pferden.
So wie der Masochismus die Inszenierung als eine Möglichkeit nutzt, sich auf das Abbild des Vergnügens und nicht auf den Akt selbst zu konzentrieren, so konzentriert sich Tuesday zusammen mit Wait What und Defeated auf die Spannung und die transformative Energie, die der Antizipation innewohnt, was passieren wird; oder anders formuliert: was möglicherweise passieren könnte. Diese aufgeschobenen und miteinander verwobenen Bilder untergraben die Binarität von Unterwerfung und Dominanz und damit letztlich auch die Bedeutung der Gesten: Was als zärtliche Pflege von Pferden erscheint, wird zu einer ausbeuterischen Form von Gewalt, und was normalerweise ein Akt des Kampfes zwischen Männern ist, wird zur Demonstration eines sinnlichen Spiels.
Camille Henrot wurde 1978 geboren und lebt und arbeitet in New York. Henrots vielfältige Praxis bewegt sich nahtlos zwischen Film, Zeichnung und Skulptur. Henrots Arbeit greift ihre umfassenden Forschungen zu Themen und Disziplinen wie Literatur, Mythologie, Kino, Anthropologie, Evolutionsbiologie, Religion und Geschichte auf und überarbeitet die Typologien von Objekten und etablierten Wissenssystemen. Ein Stipendium im Jahr 2013 bei Smithsonian führte zu ihrem Film Grosse Fatigue, für den sie bei der 55. Biennale in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet wurde. Henrots Ausstellung „The Pale Fox“ wurde 2014 erstmals in der Londoner Chisenhale Gallery gezeigt und reiste nach Kunsthal Charlottenburg, Kopenhagen; Bétonsalon, Paris; und dem Westfällischen Kunstverein, Münster.
2017 präsentierte Henrot unter dem Titel „Days Are Dogs“ im Palais de Tokyo in Paris eine Carte Blanche-Ausstellung. Henrot hatte Einzelausstellungen im New Museum, New York; Schinkel-Pavillon, Berlin; New Orleans Museum der Kunst; Kunsthalle Wien; und Jeu de Paume, Paris. Camille Henrot nahm an den Berlin- und Sydney-Biennalen 2016 und der Lyon-Biennale 2015 teil. Sie erhielt den Nam June Paik Award 2014. Henrot hat bevorstehende Ausstellungen in der Tokyo Opera City Gallery in Tokio, Japan (2019) und in der National Gallery of Victoria in Melbourne, Australien (2020).