carlier | gebauer freut sich, mit WORK die erste Einzelausstellung des albanischen Künstlers und Ministerpräsidenten Edi Rama in der Galerie anzukündigen. Die Ausstellung umfasst neue Zeichnungen und Aquarelle auf Dokumenten und Notizen, die Rama während Meetings und Telefonaten anfertigt. Aktuelle Keramikskulpturen sowie eine neue Wandtapete, ähnlich der Tapete in seinem Büro in der Kryeministria in Tirana, ergänzen die Präsentation.
Edi Ramas zeichnerische Praxis entwickelte sich in enger Verbindung mit seiner Karriere als Politiker – oder, wie Kurator Hans Ulrich Obrist schreibt: „Ramas Kunst existiert nicht getrennt vom Politischen, vielmehr koexistiert es mit diesem“. Kunst ist demnach kein Luxus, sondern das wesentliche Element eines funktionierenden Gemeinwesens: „Kultur“, so Edi Rama, „bedeutet Infrastruktur und ist nicht nur bloße Oberfläche“. Ein dafür eindeutiges Beispiel war Ramas Initiative, nach seiner Wahl 2000 zum Bürgermeister von Tirana, die Fassaden der während des kommunistischen Regimes vernachlässigten Wohnblocks bunt zu streichen. Für Rama eine politische Aktion mit Farbe, die Anri Sala, Künstler und Weggefährte Ramas in seinem Video Dammi i Colori (2003) festgehalten hat. Obgleich ein derartiges Unternehmen auch wie ein bloßes Aufhübschen wirken konnte, insbesondere in einer Phase, in der zahlreiche Wohnund Geschäftshäuser weder an das öffentliche Stromnetz noch an die Wasserversorgung angeschlossen waren, hatte das Projekt spürbaren Einfluss auf die soziale Struktur: Die Bevölkerung fühlte sich durch das bunte Umfeld sicherer, die Kriminalitätsrate sank und die Anwohner nahmen nach und nach die Vergitterung von ihren Fenstern. Entlang der bunten Straßen, so stellte Rama zudem fest, stieg die Akzeptanz gegenüber Steuerabgaben auf 90% während sie in anderen Stadtvierteln bei den üblichen 4% stagnierte.
Eine der ersten Amsthandlungen, nach seiner Wahl zum Premierminister Albaniens in 2003, betraf die komplette Demontage der Barrikaden rund um die Kryeministria. Heute werden die Besucher beim Betreten des Gebäudes im „Center for Openness and Dialogue“ begrüßt, das 2015 eröffnete. Das Zentrum besteht aus einem digitalen Archiv des Premierministerbüros, einer Bibliothek und Ausstellungsräumen. Auf der offiziellen Website heißt es, das Center for Openness and Dialogue wolle “ein Labor werden, in dem untersucht wird, in welchen Bereichen Künste, Politik und Forschung aufeinandertreffen und wie deren Potenziale sich überschneiden”.
Über dem Center, in Edi Ramas Büro, ist sein Schreibtisch mit mehreren Fächern voller bunter Marker und Stiften übersät. Während alltäglicher Telefonkonferenzen und Meetings produziert Rama parallel zahllose Zeichnungen auf den Ausdrucken seiner Terminagenda, seiner Arbeitsnotizen, auf Protokollen, Faxen und andere Korrespondenzpapieren. Die Zeichnungen, die im Umfeld staatlicher Macht entstehen, dienen als eine Form der mentalen Befreiung und können als abstraktes Tagebuch gelesen werden; als eine lebendige Aufzeichnung des politischen Lebens. Seine Zeichen und Markierungen lassen ein alternatives, kommunikatives System entstehen, das den produktiven Überschuss und die Spannungen im Alltag eines KünstlerPolitikers auszudrücken vermag. Die neue Wandtapete, die für die Ausstellung bei carlier | gebauer entstand, basiert auf diesen Zeichnungen und ist von einer ähnlichen, in Ramas Büro installierten Tapete inspiriert, welche ebenso Teil des von Christine Macels kuratierten Beitrags der Biennale in Venedig in 2017 war.
Sie besteht aus zahlreichen Einzelzeichnungen – eine Ansammlung von Tagen, Entscheidungen und Gedankengängen, die in den Raum übertragen werden. Einige dieser Zeichnungen erscheinen wie ineinanderfließende Farbströme. Andere, etwa ein Brief an die deutsche Kanzlerin, ähneln einer surrealen grünen Landschaft. Außerhalb der Arbeitszeit, an den Wochenenden, entstehen wiederum dynamische Skulpturen, die die Expressivität von Ramas Zeichnungen plastisch übersetzen, auch indem die skulpturale Gestalt und ihr Sockel jeweils konkret in Bezug gesetzt sind und ihre Umrisse fließend ineinander übergehen. So nehmen Ramas expressiv abstrakt formulierte Gedanken letztlich architektonische Dimensionen an. Weiterer Teil der Ausstellung wird eine neue, noch nie gezeigte Serie gelber, bearbeiteter Post-its sein, die direkt auf die Galeriewände geklebt sind und dem Prinzip der täglichen Aufzeichnungen folgen. Obwohl die organischen Formen und lebendigen Farben von Ramas Zeichnungen visuell reizvoll sind, ist es doch die Beziehung zwischen Hand und Geist, die Ramas Arbeiten ausmacht: “Ich begann zu begreifen, dass mein Unterbewußtsein durch meine Hände darin unterstützt wurde, ruhig zu bleiben, während mein Bewußtsein sich auf schwierige Themen fokussieren musste. Das half mir, Fehler und falsche Einschätzungen aufgrund schwindender Konzentration zu vermeiden,” erklärt er. “Später habe ich mir bewußt Zeit genommen, alleine zu sein und zu zeichnen, wenn schwierige politische Entscheidungen anstanden, die Ruhe, die meine Hände meinem Kopf beibrachten, war wichtig.”
Edi Rama (geb. 1964) lebt und arbeitet in Tirana. Als ehemaliger Professor für Malerei an der Akademie der Künste und Autor mehrerer Bücher wurden seine Arbeiten in zahlreichen Einzel-, Doppel- und Gruppenausstellungen gezeigt, dazu gehören die Venedig Biennale (2017), die São Paulo Biennale (1994), das Haus der Kunst, München (2004), das Centre Pompidou, Paris (2010), das Musée D’art contemporain de Montréal (2011), die Marrakesch Biennale, Marokko (2015), The New Museum, New York (2016) und die Kunsthalle Rostock (2019). Edi Rama begann seine politische Karriere als Kulturminister Albaniens im Jahr 1998. Er war von 2000 bis 2011 Bürgermeister von Tirana. Im September 2013 wurde er zum Ministerpräsidenten Albaniens gewählt. Nach einem haushohen Sieg bei den Parlamentswahlen schlägt seine Regierung seither einen Reformkurs ein, der darauf abzielt, Albanien näher an die Europäische Union heranzuführen. Derzeit regiert er in seiner zweiten Amtszeit als Ministerpräsident.