Als „Lichtdouble“ werden im Jargon der professionellen Fotografie Menschen bezeichnet, mit deren Hilfe Fotografen vor dem eigentlichen Shooting die optimale Beleuchtung für eine Fotosession einrichten. Auf diese Methode wird oft zurückgegriffen, wenn Eile geboten ist und für das Fotografieren nur wenige Minuten zur Verfügung stehen. Im Studio hingegen lassen sich auf diese Weise verschiedene Beleuchtungsszenarien in Ruhe austesten und durchspielen.
Das gleichnamige fotografische Doppelportrait von Annette Kelm, welches dieser Ausstellung den Titel gibt, zeigt die Künstlerin, Musikerin und Verlegerin Sonja Cvitkovic sowie den Galeristen Johann König. Da die beiden Portraitierten dieselbe orangefarbene Bomberjacke tragen und sich ähnlich in Pose stellen, ist die Frage, ob hier jemand als Lichtdouble fungierte, nicht eindeutig zu klären. Die Licht- und Schattenverläufe in der unteren Bildhälfte weisen jedoch auf tatsächlich unterschiedliche Lichtverhältnisse – die Differenz von hartem Kunst- und weicherem Tageslicht hin. In der Nebeneinanderstellung zweier korrespondierender Bilder werden hierarchische Konstruktionen und ihre Effekte sichtbar.
Kelm positionierte ihre Modelle jeweils auf einer dreistufigen Aluminiumleiter vor einer Stellwand, auf der ein blau-grau-weiß-gestreifter Stoff mit Hilfe von Magneten gespannt ist. Mit Magneten sind auch Wettkampf-Zielscheiben-Auflagen aus dem Bogen- und Dartsport befestigt. Auf diese Weise greift die Künstlerin auch Motive auf, die bereits in der Vergangenheit in ihrem Werk verschiedentlich eine Rolle spielten, etwa in der Serie „Untitled“ (2006), welche die Rückseiten von durchlöcherten Zielscheiben zeigte. „Light Double“ verweist zudem auf „Untitled (Portrait on a Ladder)“ (2009), bei dem diese Leiter bereits als Sitzutensil diente. Die Geschichte eines Ateliers und den in ihm vorhandenen Requisiten schreibt sich so im Hintergrund fort. Als eine Form von Verortung kann in diesem Zusammenhang auch das Bild „Big Sur“ (2018) gelesen werden: während der Titel auf jenen berühmten kalifornischen Küstenstreifen verweist, der ein Sehnsuchtsort in Amerika ist, gehören die arrangierten Metallfedern zum historischen Inventar des umgenutzten Berliner Industriegebäudes, in dem Kelm heute ihr Atelier betreibt. Wie auf einer Bühne inszeniert die Kelm ein „mechanisches Theater“ und bringt es mit der spezifischen Küstenvegetation zusammen. Durch das Hineinnehmen der Objekte in den Raum gibt sie diesen einen Readymade-Charakter. Das macht den Raum, den die Künstlerin auf diese Weise etabliert, selbst zu einem zentralen Werkzeug.
In den Bildern von Kelm begegnet man oft Situationen, die darauf hinweisen, dass die Produzentin nicht an der Versiegelung sondern an Durchlässigkeit und Offenheit ihrer Arrangements interessiert ist. So wird etwa die Ausschnitthaftigkeit des Gezeigten betont oder durch Details, wie Falten im Foulard die Vordergründigkeit eines Arrangements gegen räumliche Tiefe gestellt. Die Falten, so wie sie auch in „Holiday Season“ (2018) auftauchen haben eine Funktion. Sie wirken als Kontrastmittel gegen die allzu gebügelten Oberflächen und fetischisierten Objekte in der kommerziellen Fotografie, deren visuelles Vokabular sich die Künstlerin in konzeptuell gebrochener Weise aneignet. „Tomato Target“ (2018) stellt eine Tomatenpflanze mit unreifen Früchten in das Zentrum eines verschachtelten Arrangements, in dem das Motiv der Zielscheibe im Sinne einer multiplen Blickführung und dessen Fokussierung assoziativ aufgegriffen wird.
Thematiken des Sehens und des Zeigens, die Konstruiertheit von Bildern, sowie das diskrete Offenlegen ihrer Produktionsumstände, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Werk, in dem dokumentarische neben inszenierten Aufnahmen stehen. So lässt sich auch das ebenfalls ausgestellte dokumentarische Bild „Ludwig Stiftung Aachen, Basement 2018“ (2018) lesen, das zugleich von Nicht-Gezeigtem und Offensichtlichem handelt. Als Kelm vor einem Jahr auf Einladung der Ludwig-Stiftung im ehemaligen Wohnhaus des berühmten Aachener Sammlerpaares fotografierte, stieß sie im Keller des Gebäudes auf diese Kellerszene mit Kruzifix, Rokoko-Zwerg, Tapetenresten und zwei Marmorbüsten der ehemaligen Hausbewohner von Arno Breker. Verschiedene Zeitlichkeiten und Ästhetiken, Profanität und Sakralität treffen in einem Backstein-Kellergewölbe aufeinander. Die Schwere der antimodernen Rustikalität wirkt erdrückend. Wie alles dort haben auch die beiden Köpfe – welche die Künstlerin so wie sie diese vorgefunden hatte, fotografierte – eine Geschichte: Im Jahr 1986 lösten der Sammler, Mäzen und Schokoladenfabrikant Peter Ludwig und seine Frau Irene einen kulturpolitischen Skandal aus. Es wurde bekannt dass sie die Aufstellung zweier Marmor-Portraitbüsten von Arno Breker im Neubau des Kölner Wallraf-Richartz-Museum / Museum Ludwig planten. „Schönheit und wohnliche Harmonie“ seien die obersten Prinzipien, die im Hause Ludwig herrschten, schrieb Eduard Beaucamp vor ein paar Jahren über das in den Fünfzigern errichtete Haus der Ludwigs im Aachener Südviertel. „Nichts drängt sich vor, nichts fällt aus der Rolle und zerschlägt den bürgerlichen Kanon“. Kelms Bild widerspricht einer solchen Interpretation vehement, indem sie den Verrat an humanistischen Werten, mithin das Bürgerliche Elend selbst in das Zentrum ihres Bildes rückt.
Annette Kelm (*1975, Stuttgart) lebt und arbeitet in Berlin. Sie gehört zu den wichtigsten Vertetern zeitgenössischer Fotografie aus Deutschland. Neben Gruppenausstellungen wie der 54. Venedig Biennale (2011) und der Ausstellung über das Portrait in der zeitgenössischen Fotografie im Kunstmuseum Bonn und der Kunsthalle Nürnberg (2016) wurden ihre Arbeiten im Rahmen von Einzelausstellungen in internationalen Institutionen präsentiert, darunter kestnergesellschaft Hannover (2017), Museum of Contemporary Art Detroit (2016), VOX. Center of Contemporary Image, Montréal (2016), Kölnischer Kunstverein (2014), Städel Museum, Frankfurt am Main (2012), KW - Institute for Contemporary Art, Berlin (2009), Kunsthalle Zürich (2009) und Witte de With, Rotterdam (2008). Zum Zeitpunkt der Ausstellungseröffnung sind ihre Arbeiten in einer Einzelausstellung in der Fosun Foundation, Shanghai, zu sehen und werden ab Dezember in der Kunsthalle Wien ausgestellt.
Annette Kelm wurde 2016 mit dem Camera Austria-Preis ausgezeichnet und ist in namhaften Sammlungen vertreten, darunter jene der Tate Modern, London; des Museum of Modern Art, New York, des Centre Pompidou, Paris; des Kunsthauses Zürich, Schweiz und des Guggenheim Museum, New York.