Alles, den Menschen Umgebende, all die Dinge und Objekte, die er für feste, steife Materie hält, sie bestehen genau genommen aus nichts. Eine Oberfläche aus carrarischem Marmor in etwa, ein Diamant, so hart und massiv uns ihre Struktur jeweils vorkommen mag, sie bestehen doch nur aus einer Aneinanderreihung von Atomen, und gerade diese sind: leer. Stellt man sich ein einzelnes Atom in der Größe eines Fußballstadions vor, so ist der ausschließliche Teil, der über eine Masse verfügt, sein Kern, so groß wie ein Reiskorn in der Mitte des Spielfeldes. Der Rest ist Nichts.
Was aber ist es dann, das die Welt – wie es in Goethes Faust heißt – „im Innersten zusammenhält“? Und was genau geschieht inmitten der schier unendlichen Leere, die alles umfängt? Wenn die Erkenntnisse der Physik so wenig zum konkreten Verständnis der Welt beitragen können, eher alles in Frage stellen, was den begrenzten Sinnen des Menschen zugänglich ist, dann braucht es andere Arten des Verstehens jenseits der Wissenschaft.
Die Berliner Künstlerin Alicja Kwade, die in ihrer Arbeit immer wieder die Unternehmung wagt, wissenschaftliche Fragestellungen in künstlerische Konzepte zu überführen, gibt mit ihrer Ausstellung Entitas poetische, intuitiv erfassbare Antworten auf die Frage, was in den unsichtbaren Zwischenräumen der Erkenntnis geschieht, was sich ereignet zwischen zwei Wimpernschlägen, zwischen zwei Blicken.
Mit dem Ausstellungstitel Entitas (mittelaltlateinisch für „Entität“) bezieht sie sich unmittelbar auf die Frage nach dem Wesen der Dinge: Woraus ist die Welt gemacht? Und mindestens genauso wichtig: Welche Informationen stehen uns zur Beantwortung dieser Frage überhaupt zur Verfügung?
In der für die Ausstellung zentralen, in den Raum ausufernden Installation „Die bewegte Leere des Moments“, die 2015 für die Schirn Kunsthalle in Frankfurt entstand, schwingen zwei Objekte, ein massiver Stein und eine kupferne Bahnhofsuhr, in einer Kreisbahn über die Köpfe der Besucher hinweg und sind als Luftzug spürbar. Über Lautsprecher verstärkt hört man das Vergehen der Zeit, das Ticken des Sekundenzeigers, sowie das Rauschen der Bewegung, die der bewegte Stein in die Atmosphäre schneidet – die Komposition erinnert an Herzschlag und Atmung, die Grundfunktionen menschlicher Existenz. So kreisen die Objekte, Protonen und Elektronen gleich, um ein nie genau zu fassendes Zentrum, markieren dabei gerade jenen Zwischenraum, der uns als Leere erscheint.
Kwade nimmt mit der Arbeit auch Bezug auf ihre bereits 2013 in ST. AGNES gezeigte Rauminstallation „Nach Osten“, als sie ein Foucaultschen Pendel quer durch das damals noch nicht umgebaute Kirchenschiff gleiten ließ. In ihrem Anliegen, der Entität der Dinge näher zu kommen, beschreibt und interpretiert sie alltägliche Objekte in ihren Bewegungen und Verwandlungen. Über allem kreist, wie der Stein und die Uhr über den Besuchern, die Frage, wo ein Objekt beginnt, und wo es aufhört, ob diese Grenze überhaupt existiert, und wer darüber entscheidet?
Dass die Bewegung von Objekten erst durch die Interpretation des Gehirns ermöglicht wird, dass sie nur als Abfolge von Momentaufnahmen wahrnehmbar ist, dessen ermahnt die Arbeit Fall Force (2018). Der Betrachter sieht den eingefrorenen Moment einer längeren Narration – ein Standbild in Skulptur gegossen. Irgendeine Macht ließ diese Rohre fallen, alles geriet in Chaos, klatschte auf, klirrte und lärmte, doch nun ist alles ruhig. Was nach dem nächsten Wimpernschlag geschieht, wie es dazu kam, der Besucher muss es selbst fortdenken. Doch erinnert ihn das Ticken der Uhr über ihm daran, dass auch dieser Moment nicht festzuhalten ist.
Noch einmal zurück zum Urding, dem Stein. Vor Jahren las Kwade einen Findling auf, lies ihn mittels 3D-Technik exakt vermessen und nachbilden und arbeitet seither immer wieder mit ihm in zahlreichen Kopien. Das einstige Unikat, geformt durch Urgewalten, Erosion und Zufall, taucht in der Arbeit Trans- For – Man (8) (2018), noch einmal in acht Zuständen auf und durchläuft dabei eine schrittweise Verwandlung bei stets gleichbleibendem Volumen.
Ausgehend vom „Original“ wird der Stein zur einen Seite hin in seiner Komplexität immer weiter bis zum Oktaeder herunterreduziert, auf der anderen Seite steigt die für seine Beschreibung notwendige Informationsdichte bis zur perfekten Kugel stetig an. Kwade nutzt, wie häufig, Werkzeuge der Mathematik – in diesem Fall die Fibonacci-Zahlenfolge, ein natürliches Wachstumsmuster der Natur, das dem Goldenen Schnitt entspricht. So nähern sich nun von beiden Enden her die abstrakt-geometrischen Formen wieder dem Naturobjekt an – wann ist es noch ein Stein und wann nicht mehr?
In Hemmungsloser Widerstand (2018) sieht der Betrachter – vielleicht als Protest – geworfene Steine, doch haben sie nicht zum Umsturz geführt. Der Widerstand blieb hemmungslos, die Steine verharren inmitten des Glases. Wie aus einem Film gestanzt, wie die Einzelaufnahme aus der Chronofotografie Eadweard Muybridges, erscheint die Szene, hier jedoch aufgelöst im Absurden, da sie jeder bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeit widerspricht.
Alles könnte immer auch anders sein, das offenbart Entitas dem Besucher. Und wie aus nichts etwas entsteht, davon ahnt man etwas beim Betrachten von Zustand der Beobachtung (2018). Blickt man durch die spiegelpolierten Edelstahlrohe hindurch, in denen nichts ist, verliert man den Bezug zur Umwelt, die Distanz zur Welt hinter der Röhrenverstärkung geht verloren. Und doch, wie Parallelwelten liegen um die Skulptur herum blau-glänzende Macauba-Kugeln – es scheint, als habe diese Welterschaffungsmaschine sie gerade eben ausgespuckt. Aber woher sollten sie kommen? Das Nichts, die Leere sind so real wie unüberbrückbar. Kein Zauber, keine Alchemie, keine Wissenschaft kann sie für den Menschen mit Sinn füllen. Alles, was er tun kann, ist, sie mit und in der Kunst immer wieder, blitzlichtartig für einen flüchtigen Moment auszuleuchten.