Der ersten Einzelausstellung, die Tamuna Sirbiladze noch in ihrer Geburtsstadt Tbilisi in Georgien ausrichtete, gab sie den Titel „The Sun Will Rise“. Sie hatte damals die dortige Kunstakademie schon absolviert und stand kurz vor dem Umzug nach Wien, wo sie weiterstudieren wollte und dann an der Akademie der bildenden Künste bei Franz Graf und Heimo Zobernig studiert hat. Als ich im Herbst letzten Jahres in Tbilisi die frühen Arbeiten der Künstlerin für ein digitales Archiv fotografierte, stieß ich auf einen Plakatentwurf für diese erste Ausstellung, auf dem der Titel noch lautete: The Sun Will Rise Again. In dieser Fassung ist die beschwichtigende, tröstliche Intention noch deutlicher, die diese Feststellung haben kann, wird sie als Antwort auf existentielle Nöte oder tiefen Kummer getroffen. Mit einer Kindheit, die Krieg zu ihren Erfahrungen zählen musste, wird es genug Gründe gegeben haben, gegen Pessimismus Vorkehrungen zu treffen; diese Kindheit hatte auf jeden Fall aus Tamuna Sirbiladze eine starke Frau gemacht, und eine Künstlerin, deren klassische Ausbildung sie befähigte, sogar mit monumentalen Außenfresken sowjetischer Tradition fertig zu werden.
Deswegen hat sie später mit gestischer Kraft große Formate nie gescheut, deswegen hatte sie bei ihren Ausstellungsprojekten ein sicheres Gefühl für den Kontext der Architektur. Bewiesen hat sie letzteres auch mit den von ihr gestalteten und manchmal in den Raum gestellten Wänden: eine davon stand in der Londoner Gruppenausstellung „Der Ficker“; die Arbeit trug den Titel „The Husband Is No Wall“ (2007) und befindet sich jetzt in der Sammlung Saatchi. Die größte Fläche hatte sie im gleichen Jahr anlässlich einer Kooperation mit ihrem Ehemann Franz West in Venedig im Palazzo Grassi auf ihre typische Art in Grüntönen und mit Kratzspuren bearbeitet, die ursprünglich von Wandbemalungen in der Villa Medici in Rom inspiriert gewesen war. Eine weitere Zusammenarbeit, „Moonlight“ (2001), mit silbern bemalten Wänden und Tafelbildern von ihr und zwei silbernen Sitz- bzw. Liegegelegenheiten ihres Mannes ist gerade bei einer Ausstellung im 21er Haus in Wien zu sehen und überstrahlt die weiteren dort gezeigten Kooperationen Franz Wests mit anderen Künstlern.
Die jetzt in der Galerie Eva Presenhuber gezeigten Arbeiten geben auf verschiedene Weise Zeugnis von der geladenen Direktheit und symbolischen Lockerung Tamuna Sirbiladzes. Bei den von ihr Banners genannten Arbeiten mit Ölstiften auf roher Leinwand, für die sie manchmal Kinderzeichnungen ihrer Tochter Emily als Vorlage heranzog, geben die festen Ansätze des Strichs den inneren Rhythmus der Künstlerin und die Linienführungen ihren körperlichen Schwung deutlich wieder. Der Stift kann aber auch wie ein erweitertes empfindliches Sinnesorgan Gegebenheiten wie den Faltungen der lose hängenden Leinwand folgen. Die Betrachtenden gewinnen durch diese Reduktion, die, wie jede Reduktion, Lebensenergie in Konzentration umwandelt, die Möglichkeit, die Spuren wirklich zu lesen und das Assoziative, das sich die Grenzen entlang bewegt, als das Formgebende zu begreifen. Behält man die Linien und die Art, wie sie andeuten im Auge, so drängen sich die Entsprechungen mit den Malereien in Acryl auf. Diese sind in ihrer Direktheit wilder, und wie das Gestische sich im Farbauftrag oft verflüssigt, bewegt sich das Unbewusste ungehinderter an die Oberfläche.
Der Begriff von den Spuren des Lebens scheint hier noch besser zu greifen. Aber statt der Spuren beginnen wir uns selbst, unsere Widerstände, Desorientierung, Chaosverliebtheit, unseren Bedeutungshunger, Ordnungsdrang, oder was immer die einzelnen prägt, zu lesen. Als Kontrapunkt zu diesen rauen Spuren des Erlebten kann die immer wiederkehrende malerische Auseinandersetzung der Künstlerin mit Masken gesehen werden, die - sie war eine Leserin von Claude Lévi-Strauss - zugleich von ihrer subversiven Sensibilität für gesellschaftliche Rituale zeugt: „In dieser Perspektive wird man nun feststellen, dass die sozialen oder religiösen Funktionen der verschiedenen Maskentypen, die man einander gegenüberstellt, um sie vergleichen zu können, untereinander in derselben Transformationsbeziehung stehen wie die plastische Form, die Zeichnung und die Tönung der Masken als materielle Gegenstände.“(Lévi Strauss, Der Weg der Masken) Wird von den Masken abstrahiert, könnte es sich fast um eine allgemeine Schau- und Leseanleitung handeln, denn es sind immer lebendige, verborgene Verbindungen, denen Kunst entspringt. Hinsichtlich der sozialen Zusammenhänge und Funktionen zog die Rolle der Frau natürlich Tamuna Sirbiladzes kritische Aufmerksamkeit auf sich. Neben den russischen Klassikern zählten Simone de Beauvoir, Julia Kristeva und Susan Sontag zu ihren Lieblingsautorinnen.
Ihre oft schnell gemalten Bilder stellen die wertende Kontrolle der Betrachtenden in Frage und hatten im Persönlichen, Biographischen teilweise die Funktion eines Tagebuchs. Mich, der ich die Künstlerin die letzten Jahre ihres Lebens und die Entstehung vieler ihrer Bilder begleiten durfte, bringt das beim Deuten manchmal in seltsame Lagen, die meinen Zustand zwischen Flash-backs und Assoziationsfluchten changieren lassen. Vielleicht bin ich gerade deswegen nicht der berufene Interpret. Denn im Grunde dreht es sich bei diesen Arbeiten um etwas Allgemeines, um ein Aspektsehen, um ein Kippen, ein Aufbrechen von Abstraktion in Figuration (die Richtung ist wichtig!). Die Titel, die nicht selten mit surrealistischen Methoden gefunden wurden, können dabei eine helfende Rolle spielen. Charles Bally, ein Genfer Linguist und Strukturalist der ersten Stunde, bringt einmal (in Le langage et la vie) ein schönes Bild vom Verhältnis der Umgangssprache zur geschriebenen Sprache, das ich hier zur Übertragung auf die untergründigen Malweisen Sirbiladzes freigeben möchte: er vergleicht dort die schriftliche und konventionelle Sprache mit dem strengen Eis, unter dem die Umgangsprache wie lebendiges Wasser dahinsprudelt. Plötzlich bricht das Eis und das Wasser bringt Leben und Bewegung an die Oberfläche.
Für ein Künstlerbuch bei der Pariser Onestarpress mit dem Titel „titles“ hat Tamuna Sirbiladze auf Reproduktionen ihrer Bilder in Schwarz/Weiß handschriftlich ihre Titel geschrieben. Über die Reproduktion einer Leinwand, die zwei mal - in unterschiedlicher Typographie und Farbgebung - den Schriftzug Spiegel wiedergibt, hat sie Mirror : Error geschrieben. Auch wenn das lautliche Echo die visuelle Spiegelung wiedergeben kann, die auf dem Bild nur gebrochen durch Wiederholung in Schrift beschworen wird, sei die Wiedergabe, die spiegelhafte Repräsentation selbst immer ein Error, fehlerhaft, wird damit vielleicht zu verstehen gegeben. Auf der Reproduktion eines Bildes, das hier in der Ausstellung hängt, steht in Tamunas Handschrift der Name einer Jahreszeit: Autumn. Das Bild ist in Rottönen gehalten, die Linien wirken wie hingeworfen, die Formen also wie zufällig: zwei schemenhafte, sitzende Figuren im Vordergrund – einander zugewandt? –, die linke hat durch glückhafte Aussparung ein feines, wenn auch sehr kleines Gesichtsprofil. Und sehen ihre oberen Fortsätze nicht wie Luchsohren aus? Rechts im Hintergrund eine Figur stehend – pissend? –, das Liniengewirr hinter oder neben dieser Figur könnte als Andeutung eines Baumes interpretiert werden. Links oben schwebt ein kleines, löchriges Herz. Sitzen die beiden Figuren am Wasser? Rote Wellen? Alles falsch gelesen, die weißblauen Striche übersehen, hättest du doch die Farbspuren Spuren sein lassen und einfach nur geschaut.