Die Galerie Peter Kilchmann freut sich, mit Nasse augen die vierte Einzelausstellung des Schweizer Künstlers Andriu Deplazes (g. 1993 in Zürich; lebt und arbeitet in Marseille und Zürich) in der Galerie präsentieren zu dürfen. Der Titel knüpft an seine Einzelausstellung Rote augen im Bündner Kunstmuseum Chur, 2019, an. Während Rote augen für tobende Wut, Zorn und einen lauten Aufschrei stand, symbolisiert Nasse Augen das Loslassen, die Befreiung und den Mut, endlich zu weinen. Das Ohnmachtsgefühl als Reaktion des Individuums gegenüber scheinbar unüberwindbaren, komplexen Zusammenhängen in unsere Gegenwart hallt nach. Die Ausstellung verkörpert die Weiterentwicklung des Künstlers: Sein Schaffen ist reifer geworden, hat sich verfestigt und er stellt damit seine Qualität als herausragender Maler deutlich unter Beweis.

Durch seine Arbeiten erschliesst Andriu Deplazes die drei Stockwerke an der Rämistrasse mit Themen, die politische, globale und persönliche Prozesse reflektieren: Menschen und ihre Verbindung zur Natur, Familienkonstellationen, Schutz, Ausgrenzung und Prekarität – Motive, die uns bereits aus seinem Werk bekannt sind. Das Wasser erscheint in vielen Werken als verbindendes Element, während ein weiterer zentraler Leitgedanke die Suche nach Schutzmechanismen, Geborgenheit und Intimität oder, im Gegenteil, der Befreiungsakt ist – ein dynamisches Wechselspiel zwischen Innen und Aussen. In der Ausstellung werden neue Malereien auf Leinwand, Papierarbeiten, Keramikskulpturen und Glasmalereien, einzelne in Leuchtkästen, gezeigt. Dabei orientierte sich der Künstler bei den Farben und Stimmungen teilweise an Ernst Ludwig Kirchner, Lucian Freud und Maria Lassnig und weiteren Künstler*innen der klassischen Moderne.

Ein gräulich verfärbter Stoff, ein Gletscherflies, fliesst von der Decke bis zum Boden, umhüllt das Treppengeländer und bewahrt damit die noch verbliebenen Gletscher einer sich den Wölbungen des Ausstellungsraumes anpassenden, monumentalen Malerei eines Alpenpanoramas, Gipfelbuch, gipfelmännchen (206 x 378 cm): Unsere Gletscher schmelzen, sie weinen. Die an einen Vorhang erinnernde, synthetische Stoffbahne hat vergangenen Sommer dazu beigetragen, 80'000 Quadratmeter des Titlisgletschers vor Sonneneinstrahlung zu schützen. Nun schirmt sie die Besucherinnen vor beobachtenden Blicken auf der Treppe ab. Was ist uns eine Skifahrt im frühen Dezember wert? Können oder wollen wir in Zukunft darauf verzichten? Im Vordergrund des Alpenpanoramas ist eine emporblickende Figur mit einem Gipfelbuch – einem Tagebuch ähnlich –, in dem man sich vor Ort verewigen kann, gemalt. Während die Gletscher im Hintergrund schwinden, stauen gigantische Dämme Schmelzwasser zur Energiegewinnung. Diese Hilflosigkeit, dieses Unvermögen widerspiegelt sich emotional in der Papierarbeit *Les pleureuses de Bologne (150.5 x 109.5 cm) wieder: Zwei Frauenfiguren in hellrosa, pinker, lila und hellblauer Farbe, Ölfarbe und Tusche. Ihre liquiden Körper aus Tränen und Farbe fliessen ineinander, verfliessen in eine scheinbar flüssige Masse aus Farbe. Die Gestalten erinnern an die traditionelle Bildsprache der Passion Christi, insbesondere an die Darstellungen von Trauernden, von ‘Klageweibern’, wie in Szenen der Beweinung Jesus Christus’. Deplazes verwendet für seinen Papierarbeiten verschiedenen Techniken, bei der neusten trägt er zunächst Tusche und Öl auf und bedruckt danach den Träger mit dem Verfahren der Monotypie. Letztere erhalten dadurch eine beeindruckende Tiefe und Leuchtkraft, ganz ohne Weissanteile des Papiers.

Unter dem Schutz des Flies gelangen die Besucherinnen ins Obergeschoss. Der erste Raum widmet sich InterieurSzenen und verschiedenen Familienkonstellationen, wodurch Rollenbilder in der Gesellschaft und in Familien hinterfragt werden. Vor einem idyllischen Bergpanorama, *Fisch im teller, augen im horizont (51 x 61 cm) sitz beispielsweise eine dreiköpfige Familie am Tisch. Die Bühnenszene Körper vor und hinter vorhang (194 x 239 cm) lässt offen, ob sich die Betrachter-innen davor oder dahinter befinden. Die Figuren sind, charakteristisch für Deplazes’ Werk, zwar menschlich, jedoch generisch, entfremdet und androgyn mit vagen Gesichtszügen, in einer isolierten Manier dargestellt. Das Ölgemälde Auf Ellenbogen stützen (70 x 70 cm) zeigt zwei unbekleidete Körper im Bett, die direkt in die Augen der Betrachter-innen schauen. Das Duvet erstrahlt im Licht des Abendrots in violetten und rosaroten Nuancen und erinnert an eine Berglandschaft, sanft umhüllt von ziehenden Wolken.

Im nächsten Raum weitet sich der Blick auf parallellaufenden Schicksalen, mit denen wir insbesondere durch unseren konstanten Medienkonsum laufend konfrontiert werden. In der grossformatigen Ölmalerei Körper hält kinderwagen (165 x 290 cm) offenbart Deplazes eine traumhafte, surreale, üppige, florale Landschaft. Im Vordergrund ist ein Garten zu sehen, grasgrüne Gräser, eine Vielfalt von Blumen in Weiss, Lachs, Orange, Rot, Violett, Aubergine und Veilchenblau. Sträucher in satten Grüntönen wurden akkurat gepflanzt und durch graue Steine akzentuiert. Dahinter erstreckt sich ein weiter, grüner Acker, der in eine nebelumhüllte Bergkette übergeht. Allein und verlassen, fast dystopisch steht eine Figur mit nacktem Oberkörper gehüllt in eine königsblaue Hose barfuss im Garten. Sie hält das rote Fahrgestellt eines Kinderwagens in den Händen und weint. Am Horizont zeichnet sich vor dem nebligen Himmel eine Menschenkette ab - Familien mit Kindern in Bewegung. Körper im kampf (180 x 270 cm) erzählt vom Leben im Krieg und Schutzmechanismen. Im Hintergrund blitzen Abfangraketen. Im Mittelgrund boxen zwei Gestalten auf einer Wiese, trotz Krieg gehen sie ihren Hobbies nach, spielen den Kampf. Im Vordergrund begibt sich eine Fuchsfamilie nahe zu ihrem Fuchsbau. Beide, die Boxer, sowie die Füchse hegen sich so weit, wie in einer künstlichen Blase, in Sicherheit. Im Gemälde Zwei körper mit helm vereint (203 x 167 cm) blicken wir auf ein Paar beim Skifahren, eng umschlugen, Wage an Wange.

Im letzten Raum im Obergeschoss konfrontieren uns die Figuren in den Werken mit ihrer Resignation. Kampflos nehmen sie ihre jeweiligen Schicksale an. Die Glasmalerei Körper mit kerze im eingang (173 x 118 x 22 cm), montiert in einem Leuchtkasten, zeigt zwei Menschen mit einer Kerze vor einem Hauseingang kauernd. Von oben herab blicken wir in die Augen zweier Obdachlosen. Wie könnten wir ihnen nachhaltig helfen? Ein Gefühl von Ohnmacht macht sich breit, denn Schicksale wie diese lassen sich nicht auf die Schnelle lösen. Wir fühlen mit diesen Menschen mit, ihr Los geht uns nahe. Doch Sekunden später drehen wir unseren Blick wieder weg, kehren in unser Leben, in unseren Alltag zurück. Andriu Deplazes versetzt uns damit in eine aussichtslose Situation, in der wir zwar Empathie empfinden aber sogleich wieder scheitern. In einer Nische befindet sich die Installation Körper vor leere, die aus sechs kleinen Keramikskulpturen (je ca. 5 x 6 x 7 cm) von liegenden und sitzende, in sich ruhenden Menschen platziert auf einem bemalten Acrylglas-Panel vor einer Papierarbeit (150 x 88 cm), die einen Leeren Stausee zeigt, besteht. Der Gletscher ist vollends geschmolzen und somit fehlt auch das zu stauende Wasser.

Im Untergeschoss - der Unterwelt, dem Inferno – werden Regeln aufgehoben und auf den ersten Blick bleibt so einiges verborgen. Das Publikum begegnet in Boxer (97 x 83 cm) einer boxenden Figur, die geradem zum Schlag ausholt. Eine weitere Glasmalerei verborgen hinter dem Gletscherflies, Lèvre contre lèvre (46 x 51 x 1 cm) beschreibt zwei sich küssende, eng umschlungenen Figuren à la Bacchanalia - den wilden Bacchusfeste im antiken Rom. Das Ölgemälde Passage (d'après le Jugement dernier de Michel-Ange) (153 x 207 cm) entfaltet sich in einem Spektrum aus blauen Farbtönen, die von tiefem Marineblau über Königsblau bis hin zu schimmernden Akzenten in hellem Türkis reichen und setzt subtile Akzente in Korallenrot und kräftigem Orange. Auf den ersten Blick beschwört Andriu Deplazes eine idyllische Küstenlandschaft hervor. Bei genauer Betrachtung offenbart das Werk jedoch seine Nähe zu Michelangelos Jüngstem gericht. Zwischen den dunkelblauen Wellen entfaltet sich zart die Szene der mythologischen Figur Charon auf seiner Barke, mit der er kürzlich verdammte Seelen in die Hölle transportiert. Deplazes bewahrt die gequälten, nackten Gestalten aus der ursprünglichen Komposition, interpretiert jedoch den Fährmann neu, indem er ihn mit zwei Feuerwaffen ausstattet. Deplazes erschafft mit Nasse augen somit einen Parcours durch fünf Räume, der über unser Zeitgeschehen, unsere Privilegien reflektieren und uns damit in Denkräume voller Tiefgang und Ironie eintauchen lässt.

Andriu Deplazes (g. 1993 in Zürich) lebt und arbeitet seit 2018 in Marseille und Zürich. Er lässt sich von Stilen der spät- und frühmodernistischen KünstlerInnen wie Ferdinand Hodler, Giovanni Segantini, Pierre Bonnard und Nancy Spero inspirieren, interpretiert diese Einflüsse jedoch auf eine unverwechselbar zeitgenössische Weise neu. Dabei finden kunsthistorische Referenzen erneut Eingang in sein Werk. Charakteristisch in seinen Werken ist der unterschwellige Humor. Er tritt subtil in Erscheinung, verbindet Spannung mit Absurdität, das Gewohnte wird auf eine surreale Weise verzerrt und regt zum Nachdenken über die Grenzen von Realität und Vorstellungskraft an. Der Künstler hatte bereits mehrere Einzelausstellungen, anlässlich derer zudem monographische Kataloge veröffentlicht worden sind: Collezione Maramotti, Reggio Emilia (2023); Bündner Kunstmuseum, Chur (2019); Kunstverein Friedrichshafen (2018); Aargauer Kunsthaus (2018). In zahlreichen Gruppenausstellungen konnte der Künstler ebenfalls Werke präsentieren, darunter “Apropos Hodler”, im Kunsthaus Zürich (2024); im VFO in der Kunsthalle Zürich (2024); im Centre Pasquart Biel (2023); im Museum Gertsch, Burgdorf; im Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen (2022); auf der Bregaglia Biennale, Val Bregaglia (2022); im Haus Konstruktiv, Zürich (2020); im Pully Museum (2020); im Zentrum für zeitgenössische Kunst Futura, Prag (2020); in der Alten Fabrik, Rapperswil (2019); im Helvetia Art Foyer, Basel (2017); am CC Strombeek, Brüssel (2017); im Kunst(Zeug)Haus, Rapperswil, (2016). Von 2015 bis 2018 lebte Deplazes in Brüssel und studierte an der Sint Lukas Luca School of Arts. Im Jahr 2016 schloss Deplazes sein Studium der Bildenden Künste an der Zürcher Hochschule der Künste ab und gewann seitdem mehrere Auszeichnungen, darunter den Helvetia Kunstpreis (2017), den Prix d'Art Manor (2019) und das Stipendium Visarte Atelier Cité des Arts, Paris (2021).