Die Basis eines guten Romanprojekts ist ohne Zweifel die perfekte Entwicklung der Figuren. Auch wenn dieses für einige Autoren ein dunkles Geheimnis bedeutet, erfasst der erfahrene Leser den Kontrast und kann einen echten Kunstschreiber oder einen Improvisierten erkennen. Was gute Literatur uns gibt, sind nicht nur wertvolle Geschichten, sondern auch „wahre“ Helden oder Schurken auf der Realitätsebene des Textes. Somit denke ich, dass der Autor diese innerhalb des Romans als realistische Wesen anlaufen lassen sollte, um die Festigkeit des Werkes zu verstärken und damit der Betrachter überzeugt ist, dass die Ereignisse und deren Hauptcharaktere existieren könnten. Den Prozess, Figuren zu erschaffen, habe ich in vergangenen Artikeln erläutert (siehe „Künstliche Wesen aus der Realität“, 15 April 2021), allerdings ohne wichtige Details über deren Zusammenspiel und punktueller Anpassung. Warum Schriftsteller oft flache Gestalten darlegen, liegt daran, dass ihnen die Umgebung wichtiger ist als alles andere. Aus diesem Grund hören Leser nach ein paar Seiten auf, wenn sie beobachten, dass die Geschichte von leeren Seelen handelt.
Und wie merkt man das? Diese Frage hat so viele Antworten wie kritische Stimmen. Jedoch ein Detail mag entscheidend sein; die Beschreibungen der Figuren und deren Taten. Ein echter Kunstschreiber würde seinen Schurken nicht mit schwarzer Kleidung oder als hässlich beschreiben und den Helden mit engelhaften Geschichtszügen bestücken. Solche Bemerkungen führen zu einem sogenannten flachen Charakter, dessen Entwicklung der Geschichte nicht nachkommt und macht einen extrem künstlichen Eindruck, so dass ein Beobachter das Gefühl haben wird, alles was in der Geschichte geschieht sei überhaupt nicht realistisch. Die richtige Form eine Figur darzustellen entspricht einer besonderen Prozedur, die mit der Vorstellung der Neuen Dimension anfängt. Letzteres bezieht sich darauf, dass bei der Charakterisierung gar keine relativen Darstellungen eingesetzt werden, sondern nur imaginäre Situationen, in denen der Charakter agiert oder reagiert. Diese Art Darstellung besitzt zwei wichtige Eigenschaften; die weitreichend gesehene Entwicklung der Figur und deren Dreidimensionalität, die sie mit Stärken und Schwächen entblößt. Wenn der Autor diese Elemente im Roman zusammen würfelt, erreicht er einen besonderen Effekt, namentlich die Tiefe der Figur, als würden wir weitere Hintergründe der Charakterisierung registrieren können.
Was muss der Autor leisten, um den Effekt zu erzielen? Die verborgene Arbeit dahinter ist sehr mühsam und gehört zu einem Prozess, der sich zeitlich sehr strecken kann, wobei die Geduld des Künstlers auf die Probe gestellt wird. Die meist gebrauchte Vorgehensweise dafür ist die biographische Kartensammlung der Figuren. Sie besteht aus einer Informationssammlung, welche in Form einer Kartei oder noch besser als persönliche Geschichte des künftigen Geschöpfes bereitet werden soll. Dort muss alles genauestens vom Geburtsort über Lieblingsessen und besonderen Manien bis hinzu außergewöhnlichen Angaben niedergeschrieben werden, ansonsten besteht die Gefahr, dass der Charakter nicht überzeugt bzw. in der Geschichte nicht mehr übereinstimmt. Die Ausfüllung dieser Kartei hängt von der Vorstellungskraft des Autors ab und darf genauso viele Seiten haben wie der Roman selbst. Am Ende wird der Kunstschreiber in der Lage sein, jede Frage über seine Figuren ausführlich beantworten zu können.
Das zweite Verfahren, diese biographischen Züge festzuhalten, wird durch ein Interview mit der echten Figur, so einige Autoren, bei dem allgemeine und persönliche Fragen gestellt werden, vollzogen. Es sollte als eine Vorgeschichte dienen, mit der man angeblich realistische Effekte erzeugen kann. Diesbezüglich bin ich skeptisch, denn ein literarischer Gestalt-Charakter kann nicht mit einem realen Wesen identisch sein. Im Gegenteil; eine gemischte Figur bereichert die Realität der Geschichte und darf vom Schriftsteller schöpferisch gestaltet werden, damit er die Kernbotschaft des gesamten Werk besser ausdrücken kann.
Aber wie werden diese Informationen im Roman integriert? Darauf gibt es leider keine Antwort. Es ist jedenfalls zu berücksichtigen, dass die Rolle jeder Angabe in der Chronologie und Logik der Geschichte zusammenspielen sollte. Jeder Schöpfer kann sie mit dem Rhythmus der Geschichte oder durch einen anderen Mechanismus hinzufügen. Im Grunde genommen verkleidet der Romancier seine Geschöpfe mit all diesen Daten, wenn er deren Gefühle beschreibt. Dazu muss ich noch erwähnen, dass Romane zu schreiben kein Ergebnis der Inspiration oder eines intellektuellen Einfalls ist; es ist eher harte beharrliche Arbeit. Das Innere einer Figur in Worte zu übersetzen, mag dem Autor Kopfschmerzen bereiten und zu einer Herausforderung führen, falls er vorher die Sinneswahrnehmung der Charaktere nicht registriert hat. Die Komplexität der inneren Wahrnehmung in einen Text zu fassen ähnelt einer Reise in das Ungewisse, die durch die Vorarbeit gerettet werden kann, wenn der Kunstschreiber weiß, aus welcher Materie seine Geschöpfe geschaffen worden sind. Was in deren Verstand abläuft, welche Chemie deren Körper beherrscht und wie jeder Quadratzentimeter deren Haut aussieht, kann nur der Kunstschreiber beantworten, wenn er fließend darüber schreibt. Das Endergebnis ist ein hochqualitativer Text, bei dem die Dreidimensionalität zum Vorschein kommt und der Schnittleser aus Begeisterung weiter liest und eine akribische Bearbeitung intuitiv erkennt. Bei dieser vorsorglichen Darlegung ist die Statik der Geschichte nicht nur gesichert, sondern auch die Wechselwirkung Romanfigur-Leser in bester Form angereiht.