Während im Jahr 1929 die Börsen in der Wall Street zusammenstürzten, kam der Roman zur Welt, den man ursprünglich als Stadtroman benennen kann. „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin erblickte beim S. Fischer Verlag im letzten Jahr der Goldenen Zwanziger das Licht der Welt. Eigentlich möchte ich unter diesen Zeilen gar keine Erörterung des Romans darstellen, doch aber aufweisen, dass Döblin der Romancier war, der den Stadtroman als solchen, in einer modernen Form, einführte.
Ganz von der Hauptfigur, Franz Biberkopf, abgelöst, ist der historische Hintergrund, der nicht nur die Hauptrollen, sondern auch den Klang der Geschichte beeinflusst. Laut Literaturhistorikern fing Döblin im Jahr 1926 mit diesem Projekt an. Die politische Lage in Deutschland, die Weimarer Republik, war einerseits gut für die Wohlhabenden, aber relativ perspektivlos für die unteren Schichten der Gesellschaft. Grund dafür war der Schuldenbetrag, 20 Milliarden Goldmark, den das Land nach dem Ersten Weltkrieg wegen des Versailler Vertrages zurückzahlen musste.
Diese Schuld war extrem hart und ungerecht durch eine Kommission festgelegt worden. Deswegen stürzte die Weimarer Republik anfangs der 1920 Jahre in eine ernsthafte Wirtschaftskrise, in der der Autor seinen Beobachtungsprozess des kriminellen Berliner Milieus fortsetzte. Da er wegen seines Berufs (Arzt) der Psychiatrie gewidmet war, setzte er seine literarische Bemühung auf die Figur von Franz Biberkopf; ein Arbeiter, der das Gefängnis verließ und trotz des guten Willens, ein neues Leben anfangen zu dürfen, gerät er immer wieder in die Sackgassen der Kriminalität.
Das spannende an „Berlin Alexanderplatz“ ist die Beschreibung der Umgebung und Atmosphäre durch die Figuren und der Delikte. In diesem Sinne ist im Roman das Proletariat der Großstadt, sowie es tatsächlich in der Zeit war, dargestellt. Gewalttätige Situationen, verbrecherische Vorgänge, Zuhälter und leichte Mädchen, lassen uns zweifellos feststellen, dass es sich in dem Wendepunkt zwischen 1923 bis 1926 hätte abspielen müssen. Ab 1924 erholte sich die deutsche Wirtschaft und die Reichsmark wurde eingeführt. Dank weiterer Reformen stieg die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Preise, Investitionen und Geld - durch die neue Währung - verursachten die goldenen Zwanziger (1924-1928) und anscheinend kämpfte in dieser Zeit Franz Biberkopf und seine Kumpel für den Aufbau einer besseren Existenz.
Grundsätzlich gebraucht Alfred Döblin seine vorherigen Erfahrungen als Psychiater in verschiedenen Irrenanstalten in Berlin, wo er nicht nur tätig war, sondern die Gelegenheit ausnutzte, aus den Patienten künftige Profile für seine Romane zu meißeln. Das in einem Vorwort gegebene Geständnis verrät in irgendeiner Form sein Vorhaben bei diesem Roman und vor allem lässt es uns in der Statik des Aufbaus fast vollständig durchblicken. Denn die Charakterisierung der Hauptfigur hinterlässt, meiner Meinung nach, tiefgreifende psychische Merkmale in den ersten Zeilen vorkommend, die ihn instabil zeigen. Der Mechanismus des Franz Biberkopf (siehe Künstliche Wesen aus der Realität, 15 April 2021) wird auf die Milieuwelt und die Beschreibung und Hinweise zur Großstadt Berlin gestützt. Letzteres erhöht die Glaubwürdigkeit des Textes; es werden nicht nur Straßen und Plätze genannt, sondern auch Zeitungen. Die künstliche Gestalt gelang dem Romancier als jemand, der trotz Gefängnisaufenthalt wieder in die kriminellen Kreise hineinfällt, apolitisch scheint, aber treu, hochmütig, naiv und teilweise gewalttätig ist. All diese Eigenschaften stimmen mit einem bestimmten Personenprofil überein, das der Schöpfer in seiner Recherche durch seinen medizinischen Beruf vermutlich beobachtet hat.
Zusätzlich käme die wirtschaftliche Lage in der Großstadt, die nicht einfach zu erkennen ist, wenn man sich mit dem Ersten Weltkrieg nicht befasst hat. Deutschland musste vielen Ländern, laut Versailler Vertrag, Handelsvorteile gewähren, dadurch kam aber die eigene Produktindustrie mit Exportfirmen in Schwung. Unternehmen wie AEG aus Berlin-Treptow oder Hanomag aus Hannover-Linden waren Spitzenreiter, allerdings mit dem Nachteil, dass trotz Liberalisierung Devisenzuflüsse aufgrund der Kriegsentschädigung ausgezahlt werden mussten.
Die damaligen Verhältnisse entstanden durch den Wiederaufbau der Exporte und den dadurch günstigen Nährboden für viele Kunstdisziplinen wie Malerei und Theater und das Leben der Bohème, wie Bars und Tanzpaläste. Darunter entwickelten sich verschiedene Milieus, die Franz Biberkopf durch sein zielloses Verhalten aufreißen. Bestimmte Gegenstände und Kunsthandel lockten nicht nur Geschäftsmänner und Händler an, sondern auch Verbrecher und Betrüger, deren einzige Absicht es war, Opfer für ihre große Raffinesse zu finden. Die äußerliche Ordnung der Gesellschaft hatte im Hintergrund eine gewaltige Unordnung von Gier geprägt. Ehrenmänner, Ganoven, Erfolgsmenschen, Kriminelle, Politiker, Mörder, Künstler, Tänzerinnen, Journalisten, Sänger, Propagandisten, Bühnenschauspieler, Schriftsteller und Bohème wurden in den Straßen Berlins zusammengewürfelt. Alfred Döblins starke Beobachtungseigenschaft lässt uns ein Meisterwerk der Literatur bewundern. Durch die Geschwindigkeit der Erzählung? sind die Form und Struktur der Geschichte mittels der Gaunersprache der Figuren akribisch bearbeitet, so dass der Leser das Gefühl hat, er sei tatsächlich mitten in einer Gangstersitzung. Der Antiheld, dessen Tragödie er selbst am Anfang ahnt, muss allen möglichen erbärmlichen Situationen und Schicksalsschlägen gegenüber stehen, um dort weiter zu leben. Auch wenn Döblin uns mehr als eine Nachricht in diesem Roman übermitteln will, spüren wir den Puls einer Großstadt und den Herzschlag eines krankhaften Menschen über alle Seiten hinaus. Dies unterscheidet den Romancier überaus und verwandelt seine Arbeit in einen Klassiker der Weltliteratur.