Kaum ein anderes Werk hat das Verständnis von Religion im 20. Jahrhundert so nachhaltig geprägt wie „Das Heilige – Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“ von Rudolf Otto, der die Erfahrung des Numinosen zum Zentrum aller Religionen erklärt. Das 1917 veröffentlichte Buch machte seinen Verfasser auf einen Schlag berühmt und gilt bis heute als ein Meilenstein der Religionswissenschaft und Theologie. Otto beschreibt ausführlich „Das Schaudern als bester Teil der Menschheit… als Gefühl des Überweltlichen“. Vom Leser fordert er, „sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen“. Dies erfordert Mitarbeit vom Rezipienten. Wichtiger Multiplikator dieser transformierten Psychologie sind Reliquien. Sterbliche Überreste Heiliger und Gegenstände aus ihrem unmittelbaren Umfeld. Objekte als machtstützendes Potential einer über 2000 Jahre währenden christlichen Religion. In ihrer idealistischen und romantischen Umdeutung beinhalten sie die Sehnsucht nach Ewigkeit im Glauben. Ich gebe zu, dem konnte ich im römischen Alltag nicht folgen. Zu deutlich der Anblick europäischen Missstandes in der christlichen Heldenstadt. Zu deutbar der Anblick von Flüchtlingen, Armut und Lebenssituationen von Migranten. Mit meinem Projekt „Einkehren“ dokumentierte ich mein Erleben in diesem Kontext.
Ein deutliches Zeichen von Integrationswillen setzen Flüchtlinge durch ihr performatives Engagement auf den Fußwegen Roms. Beschriebene Infotafeln samt Sammelbecher markieren den Beginn und das Ende der von ihnen gesäuberten Wegstrecke. Mit Laub und Unrat gefüllte Müllsäcke und die demonstrative Handhabung von Kehrschaufel und Besen manifestieren den Willen zur Leistung der bittstellenden, eventuellen Neubürger Roms. Damit unterscheiden sich diese Aktivisten klar von klassischen Bettlern und überfallartig ausführenden Dienstleistern. Eine für mich angenehm leise, jedoch vernehmliche Besetzung des öffentlichen Raums.
In meiner reaktionsplastischen Inszenierung mit dem Titel „Einkehren“ sollte diesen Personen aus prekärer Lage für einige Stunden in meinem römischen Atelier ein Podium zur Verfügung stehen. Inmitten eines gestalteten Bühnenraums, ähnlich dem Speakers’ Corner, erhoffte ich dem Migranten eine Stimme zu geben. Inkognito, aber deutlich vernehmbar in seiner Heimatsprache, sollte der Sprechende seine Vision vom Leben in Europa klar referieren können. Mittel und Form des Vortrages waren frei wählbar. Anfang Juni 2018 kam ich mit ca. 16 Straßenkehrern ins Gespräch und übergab eine Einladung zum Palaver.
Das Ergebnis dieser Aktion ist in der Galerie als zweistündige Dokumentation zu sehen.