Nicola Samorìs menschliche Gestalten sind starr vor Angst. Ein großer abstrakter Bereich verdunkelt ihre Gesichter, ein finsterer Quell, ein „vergifteter Brunnen", der aus der Mitte der Werke entspringt: die „mala fonte". Die durchscheinenden, verwesten Körper der Figuren umrahmen den Hohlraum voller Schrecken. Ein Sturm scheint sie aufgelöst zu haben. Die „mala fonte" ist eine unbekannte Katastrophe, eine Erosion, eine unerklärliche Tragödie, etwas Unbegreifliches. Auf diesen Seelenzustand gründen sich Samorìs Arbeiten, auf das Gefühl, dass Angst unser Leben beherrscht.
Malafonte, Nicola Samorìs erste Einzelausstellung in der Galerie EIGEN + ART Berlin, ist von einer Kunstepoche beeinflusst, in der der emotionale Ausdruck von Angst allgegenwärtig war. Zwischen 1520 und 1600 mussten die Künstler des Manierismus unmittelbar mit Tragödien wie dem Sacco di Roma umgehen, einer gewaltsamen Verwüstung der Stadt Rom. Werke wie Il serpente di bronzo des Florentiner Künstlers Agnolo Bronzino waren von dem Schmerz inspiriert, den er erfuhr. Angst war eine Vorbedingung des Manierismus. Samorì ist der Auffassung, dass wir wieder in manieristischen Zeiten leben. Der Künstler nimmt einen neuen Blickwinkel ein – bisher war er eher für seine intensive Analyse des Barocken bekannt.
Der manieristische Einfluss in Malafonte beschränkt sich nicht auf einen Seelenzustand. Die Gewundenheit des menschlichen Körpers, ein Hauptmerkmal des Manierismus, ist ein durchgängiges Motiv der gezeigten Arbeiten: Auf Valle Umana (Malafonte), einem großformatigen Fresko, das die gesamte hintere Wand der Galerie bedeckt, wird es im Kampf zwischen der Schlange und dem menschlichen Körper visualisiert. Nachdem sie aus der Mitte des Freskos vertrieben wurde, gleitet die Schlange von einem ausgestellten Werk zum nächsten: Bei der Skulptur aus schwarzem Carrara-Marmor, die dem Fresko gegenübersteht, wird sie zum Schwanz, der sich vom Steiß der Figur hinauf bis zur Zunge windet. In anderen Arbeiten versucht die Schlange die Leere des Steins zu durchdringen. Auf Chi è senza ossa non lascia traccia, einem Hochrelief aus weißem Carrara-Marmor, nehmen die menschlichen Gestalten selbst die Form eines Knäuels von Schlangen an.
Malafonte ist eine Mineralienausstellung, eine Mine voller Steine, Sand, Kalk und Erde. Durch die Arbeit mit diesen Materialien bricht Samorì mit der Maltradition, elastische, dickflüssige Ölfarbe für die Körperdarstellung zu verwenden. Aus der Entfernung scheinen die Werke Opfer von Vandalismus geworden zu sein. Aber das Gegenteil ist der Fall: Samorì schafft keine Kunst, um sie zu zerstören. Stattdessen ist der Makel, das Loch im Stein, die „mala fonte" der Ausgangspunkt für die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten. Am Anfang steht die Blessur des Minerals.
2015 besuchte Nicola Samorì die Ausstellung „Das verschwundene Museum" im Berliner Bode-Museum, in der die Überreste von Marmorarbeiten gezeigt wurden, die dort 1945 einem Museumsbrand zum Opfer gefallen waren. Hierbei handelte es sich um eine der schwersten Katastrophen, von denen die Kunstwelt während des Zweiten Weltkriegs betroffen war. In der Ausstellung machten die Fragmente diese Zerstörung auf eklatante Weise sichtbar. In den Augen Samorìs verloren die Werke jedoch nie die Kraft ihrer ursprünglichen Komposition. Die Löcher und Unvollständigkeiten erinnern an das Verlorene und Herausgerissene. Sie belegen unser kulturelles Erbe.
Die Zerstörung von Material kann dessen herkömmliche Wahrnehmung erweitern. In der heutigen Gesellschaft ist die Vorstellung von Perfektion und Schönheit genau definiert. Samorìs Blick ist da inklusiver. Ein schwarzer Fleck auf einem weißen Stück Marmor bedeutet für gewöhnlich, dass es für die Kunst unbrauchbar ist. Gerade die Unvollkommenheiten erzählen jedoch die ganz besondere Geschichte des Materials. Der für die Arbeiten Cunea und Caina verwendete Marmor weist Spuren der Witterungsbedingungen auf, die an dem Berg herrschten, von dem er stammt. Die Natur hat dem Material ihren Stempel aufgedrückt.
Mehr denn je ist das Leben dazu angetan, uns mit glänzenden und perfekten Oberflächen zu verwöhnen. Die kleinste Abweichung wirft uns bereits aus der Bahn. Die Furcht vor dem Unbekannten beherrscht die Gesellschaft, die sich in einem ängstlichen, aufgewühlten Seelenzustand befindet. Die Manieristen verarbeiteten eine Angst, die sie aufgrund der politischen Lage in ihren Heimatländern unmittelbar erlebten. Heute ist die Ausprägung von Angstgefühlen auf keinen speziellen Ort beschränkt. Wir können alles live mitverfolgen, was irgendwo auf der Welt geschieht. Wir alle sind vergiftet durch Bilder von Krieg, Gewalt und Not. Wir fühlen uns von Leid umgeben.