Seit 2014 arbeitet Thomas Ruff an seiner Serie Negative, in der er die typischen Sepiatöne historischer Fotografien in Cyantöne umwandelt und damit nicht nur an frühe Cyanotypien erinnert, sondern in erster Linie das Positiv zum Negativ werden lässt und damit das „Mittel zum Zweck“, die Vorform der endgültigen Fotografie, zur Kunstform erhebt.
Innerhalb dieser Serie ist ein neuer Zyklus mit dem Titel neg◊lapresmidi entstanden, der in dieser Ausstellung in seinem Zusammenhang gezeigt wird. In einer Abfolge von 24 Fotografien folgt Thomas Ruff den Spuren der Tanzlegende Vaslav Nijinsky (1889-1950). Nijinsky war ein virtuoser Tänzer von Weltruhm, der durch seine Sprünge scheinbar die Schwerkraft zu überwinden schien. Das von ihm choreographierte Ballett L'Après-midi d'un faune nach der impressionistischen Musik Claude Debussys wurde 1912 mit dem Ballett Russe in Paris uraufgeführt und gilt als Meilenstein der modernen Choreografie. Nijinskys analytischer Zugang zur Bewegung macht seinen Faun zu einem Wendepunkt in der Tanzgeschichte. In ihm machte er die ersten Schritte zur Abstraktion im Tanz. Das skandalumwitterte Ballett erzählt die Geschichte eines jungen Fauns, der an einem heißen Nachmittag vergeblich mehreren Nymphen nachstellt und schließlich seine Lust an einem der Nymphen abgenommen Gewand stillt.
Überliefert ist das Ballet Nijinskis durch die Aufnahmen von Baron Adolphe de Meyer, einem Pionier der Fotografie, dem es in diesen Fotografien erstmals gelang die Bewegung und Choreografie des Tanzes mit einzufangen. Basierend auf diesem historischen und fotogeschichtlich interessanten Quellenmaterial de Meyers schafft Thomas Ruff einen Zyklus, der nicht nur die einzelnen Sequenzen dieser einzigartigen Ballettaufführung wiederbelebt, sondern auch die außergewöhnliche Sinnlichkeit der Körper und ihrer Bewegungen auf geniale Weise erfasst. Durch die von Ruff vorgenommene Inversion werden Licht, Schatten und Bewegungen dramatisch gesteigert, in neuen Kompositionen mit veränderten Hell-Dunkel-Werten akzentuiert, wodurch völlig unterschiedliche Tiefen- und Seh- erlebnisse erzielt werden. Die Nymphen erscheinen wie in Lichtgewänder getaucht und ihr Reiz ist ins Extreme gesteigert. Nijinskys choreographische Stilmittel sind durch die veränderte Lichtgebung geradezu hervorgehoben, deutlich sind die rechtwinkligen Armhaltungen und die abstrakten Bewegungen erkennbar. Licht und Schatten werden zu visuellen Äquivalenten von Bewegung. Fotografie als Reminiszenz an Tanz, Musik und historische Fotografie, interpretiert durch den innovativsten Fotografen unserer Zeit. (I. Lohaus)