Wir freuen uns, die Gruppenausstellung Poetics of nature ankündigen zu dürfen. Diese themenbasierte Ausstellung konzentriert sich auf verschiedene Werkzyklen von Stephan Balkenhol, Leiko Ikemura, Maximilian Rödel, Thomas Ruff, Thomas Struth und Thu-Van Tran. Die ausgewählten Werke unterschiedlicher Medien und kunsthistorischer Traditionen eint eine sinnliche Annäherung an die Natur, welche es vermag, deren transformatives Potenzial auszuleuchten, deren inhärente Zyklizität als Grundprinzip unserer erfahrbaren Welt zu reflektieren, oder Facetten ihrer Charakterisierung als archetypischen Sehnsuchts- und Zufluchtsort zu re- und dekonstruieren. In einer effizienz- und geschwindigkeitsgesteigerten, technoiden Gesellschaft sieht sich die Natur allerdings auch zunehmend Interferenzen und Veränderungsprozessen durch das Anthropozän und die Betrachtung der Natur als verwertbare Ressource ausgesetzt; eine komplexe Ambivalenz, die ebenfalls in der Ausstellung subtile Sichtbarkeit erfährt.
Nur langsam und durch kontemplative Betrachtung erschließt sich Thomas Struths Bild Ellsworth schist, Rockport, Maine 2021. Was zunächst abstrakt, malerisch, fast grafisch erscheint, setzt sich sukzessive zu einer urzeitlichen Felsformation mit mäandrierenden Gesteinslinien von artifizieller Schönheit zusammen, deren Form unweigerlich mit der dichten Fauna ringsum zu einer untrennbaren Entität aus Licht und Schatten verschmilzt. Dieser vertikalen, rauschenden Komposition gegenüber steht das horizontal konzipierte Bild Hecke, Feldberger Seenlandschaft 2021, welches durch seine Klarheit und Ruhe besticht. Nach oben ragend zeichnet sich das holzige Braun des kargen Heckgestrüpps gegen das klare Weiß des frischgefallenen Schnees und das diffus-gleißende Weiß des winterlichen Himmels ab. In reduzierter Farbpalette mit einem invertiert-wirkenden Schwarz-weiß-Verhältnis vermögen die beiden Werke es, die Natur als Refugium in all ihrem besinnlichen Zauber erstrahlen zu lassen. Das Werk Dreck, CERN, Saint Genis-Pouilly 2021 zeigt eine chaotische Akkumulation nutzlos gewordener Überreste überworfener Versuchsanordnungen in einem Innenhof des weltbekannten Forschungszentrums CERN in Genf. Metallbeschläge, Plastikfragmente, Kabelbinder diverser Stärke und Farbe auf und im Sand verweisen auf den experimentellen Charakter und die hohe Iterationsgeschwindigkeit dieser renommierten Forschungseinrichtung, welche durch physikalische Grundlagenforschung die Substanz unseres Seins und Essenz des Universums zu erforschen und beleuchten vermag. Einer imaginierten zukünftigen archäologischen Ausgrabungsstätte gleichend ist das Werk poetisches Sinnbild und Mahnmal zugleich und enthüllt das unaufhörliche Streben nach Transzendenz, Unendlichkeit und Erkenntnisgewinn bei gleichsamer Bewusstmachung der Fragilität und Vulnerabilität unseres organischen Ökosystems. Mit den gezeigten Werken wirft Struth Fragen nach Ursprünglichkeit, sowie nach Nutzen und Konsequenzen menschlichen Fortschrittstrebens auf. Welches Heilsversprechen verbindet sich mit Technologien und welche Folgen hat das menschliche Vermögen, die Umwelt auf immer drastischere Weise zu gestalten und zu transformieren? Die skulpturale Objekthaftigkeit, wie sie insbesondere in den Technik-Werken des Künstlers sichtbar wird, ist auch in diesen organischen Bildern freigelegt.
Leiko Ikemuras Werke leben von ihrer inhärenten Transzendenz. Sie frieren einen Moment des Werdens, der Transition ein. Uneindeutiges und Mehrdeutiges, sich stets Wandelndes, Verdichtendes und Auflösendes, Wesenhaftes, Organisches und Landschaftliches scheint in amorphen Konfigurationen zu verschmelzen. Die seit 2020 entstehenden Glasskulpturen scheinen das Licht regelrecht in sich zu bündeln und so von innen heraus autonom lumineszierende Kräfte zu entfalten, die der hybriden Figur ihre einzigartige Kontur und Gestalt sowie Schwerelosigkeit verleihen. Die Skulptur violet mountain ist einerseits ein Kopf einer rastenden Figur, aus welchem anstelle des Ohrs nach oben hin pflanzenartigen Strukturen wachsen. Frontal betrachtet kann sie Skulptur in ihrer Unregelmäßigkeit mit Kratern auch als Bergformation gelesen werden. Als Ausdruck eines Verdichtungs- sowie simultanen Auflösungsprozesses scheinen die organischen Mischwesen auf die natürliche Zyklizität als Grundprinzip unseres wahrnehmbaren Universums zu verweisen.
Ein profundes Interesse am Anthropozän und seinen Auswirkungen wird auch in den historisch und materialgeschichtlich fundierten Werken der vietnamesisch- französischen Künstlerin Thu Van Tran sichtbar. Die in Paris lebende Künstlerin verwendet in ihrer Werkgruppe colors of grey Farbe und Material allegorisch und lässt durch komplexe Schichtung und Verblendung eines Pigment-Kalk-Wassergemisches der Farben Weiß, Rosa, Blau, Grün, Lila, Orange wolken- oder nebelähnliche Konfigurationen entstehen. Die Formen scheinen der Natur entlehnt. Zuweilen scheinen sie einen Blick in eine hinter dem Nebelschleier verborgene Landschaft zu gewähren, oft tauchen organische, blattähnliche Formen auf, wieder andere Bilder der Serie greifen die Stimmung der Nacht auf: Die Natur wirkt trotz ihrer unmittelbaren Abwesenheit omnipräsent in den assoziativen Werken Thu Van Trans. Die Bronzeskulpturen der Serie „Novel without a title“ setzen den gestischen abstrakten Gemälden eine solide Figuration entgegen und wirken täuschend echt. Wie zufällig herabgefallenes, sich im Prozess der Zersetzung befindendes, tropisches Laub ruhen sie auf dem Boden. Sie lassen uns eintauchen in den natürlichen, allverbundenen Lebenszyklus des tropischen Waldes. Das Blatt, welches sich von der Staude löst, beginnt am Boden mithilfe zahlreicher Mikroorganismen seinen Zerfallprozess, um im Anschluss wiederum als nahrhafte Erde dem Wachstum der Pflanzen dienen zu können.
Maximilian Rödels charakteristische farbabstrahierte Ölgemälde entfalten in ihrer potenzierten atmosphärischen Expression eine überzeitliche und -räumliche Gültigkeit. Diffus verhält sich die Farbe auf der Leinwand; verdichtet sich, legt sich wie ein nebulöser Schleier über Bildareale oder entfaltet zuweilen eine blendende Strahlkraft. Die Farbe selbst wird in den Werken Rödels zum zentralen Bildgegenstand erhoben und transzendiert so ihre ursprüngliche Funktion als darstellendes Trägermedium. Grenzenauflösend, raumöffnend und immersiv, Assoziationen zulassend und doch nicht greifbar und im Verborgenen verhaftet, wohnt den Kompositionen eine mühelos anmutende Komplexität sowie Vielschichtigkeit inne, die fundamentale Überlegungen zum Anthropozän anstößt. Kunstgeschichtlich klassisch in der Traditionslinie des amerikanischen Abstrakten Expressionismus stehend, wie er insbesondere im New York der 1940er und 50er Jahre mit seinen zahlreichen Subströmungen aufkeimte, werden die Leinwandoberflächen des Künstlers als ein Blickfeld ohne zentralen Fokuspunkt behandelt. Die Folge ist ein transzendentaler Akt des Betrachtens, welcher sich sowohl durch die Unmittelbarkeit der sinnlichen Erfahrung als auch durch das daraus erwachsende profunde Kontemplationspotenzial auszeichnet. Übersetzt werden diese der Abstraktionsgeschichte entspringenden Charakteristika in gegenwartsbezogene und überzeitliche Malereien von gleißend schöner sowie rauer Bildhaftigkeit.
Thomas Ruffs Sternenbilder zählen zu seinen ikonischsten Motiven. Motiviert von seiner frühen Faszination für Astronomie und das Universum vollzieht sich im Werk des Künstlers mit seiner 1989 bis 1992 entstandenen Reihe Sterne der Schritt, erstmalig auf externe Bilder zurückzugreifen; in jenem Fall erwarb Thomas Ruff 1989 eine Kopie des Negativarchivs der Europäischen Südsternwarte (einem internationalen Forschungszentrum in Chile), die mit einem speziellen Teleskopobjektiv aufgenommen worden waren, um das sichtbare Universum zu dokumentieren. Ruff wählte Auschnitte der Negative und vergrößerte diese. Die so entstandenen Kompositionen folgen keiner wissenschaftlichen Methodik, sondern beruhen ausschließlich auf Ruffs eigenen visuellen Kriterien und sind doch eine Manifestation einer uralten Suche nach der Bedeutung des Himmels. Ruffs Werkreihe „d.o.pe.“ folgt dieser Traditionslinie und vereint gleichermaßen ein Interesse an den Naturwissenschaften – in jenem Fall vornehmlich der Mathematik. Für „d.o.pe.“ generierte Thomas Ruff psychedelisch anmutende Bilder mithilfe einer Computersoftware, die durch fraktale Muster in satten Farben eine enorme Sogwirkung erzeugen. Das Fraktal – eine selbstähnliche, geometrische Struktur bestehend aus verkleinerten Versionen seiner selbst – wurde erstmalig von dem Mathematiker Benoît Mandelbrot 1975 als Terminus in die Mathematik eingeführt. Mandelbrot gelang es damals mithilfe früher Computerdarstellungen diese Struktur zu visualisieren. Der Serientitel ist gleichsam ein Akronym Aldous Huxleys autobiographischen Essays The doors of perception von 1954, in welchem er seine Erfahrungen zur Wahrnehmung nach der Einnahme von Meskalin als bewusstseinserweiternde Substanz beschreibt. Geschickt kombiniert Thomas Ruff diese beiden Phänomene in seiner Serie „d.o.pe.“ mit neuesten Softwareprogrammen aus den 2020er-Jahren und lässt uns in scheinbar endlose Dimensionen eintauchen, bei denen die Farbe erst durch den Bildträger seine dreidimensionale Wirkung annimmt. Die künstlich generierten Bilder sind auf Veloursteppich gedruckt. Die samtige Oberfläche des Stoffes verstärkt die Tiefenwahrnehmung dieser faszinierenden Bildwelten.
Der Mensch steht stets im Mittelpunkt des Schaffens Stephan Balkenhols. Eine besondere Wandlung erfährt dieser in den berühmten Hybridwesen, die ebenfalls als klassische Wawa-Holz Skulpturen gefertigt werden: der Hasen-Mann, der Ameisen-Mann, die Pudel-Dame, der Gockel-Mann, der Löwen-Mann oder etwa auch der fleißige Mäuse-Mann; an Motiven und Humor mangelt es Stephan Balkenhol nicht. Zumeist zeigt sich diese Fusion als menschlicher Körper in Kombination mit einem Tierantlitz. Etwaige weitere Details wie z.B. ein Katzenschwanz können hinzukommen. Es wirkt fast so, als wären die Protagonist-innen maskiert. Auch in dieser Werkgruppe seines Œuvres gelingt es dem Künstler in nahezu müheloser Perfektion die einzigartigen Expressionen und vermenschlichten Wesensmerkmale dieser Figuren einzufangen. Der schnelle Duktus bleibt über die Spuren des Werkzeugs sichtbar. Der Wiedererkennungswert seiner stereotypen Frauen und Männer wurde über die Jahre so meisterhaft perfektioniert, dass man sich der Präsenz dieser Figuren nicht mehr entziehen kann. Ihr Erscheinungsbild ist uns aus dem Alltäglichen so vertraut, dass die Balkenhol ischen Gesichter oft auch als Spiegel unserer Zeit bezeichnet werden.
(Text von Y. Kaiser)