Der Gegensatz zur Gegenwart, auf dem der Alterswert beruht, verrät sich vielmehr in einer Unvollkommenheit, einem Mangel an Geschlossenheit, einer Tendenz auf Auflösung der Form und Farbe, welche Eigenschaften denjenigen moderner, das heißt neuentstandener Gebilde, schlankweg entgegengesetzt ist1.
Die im deutschsprachigen Raum geprägte Ethik der jungen akademischen Disziplin der Konservierung und Restaurierung basiert fortwährend auf den Theorien Alois Riegls (1858–1905). Mit seinem kunsttheoretischen Werk zum Denkmalkultus erarbeitete Riegl unterschiedliche Wertkategorien (Alters-, historischer, Kunst-, Neuheits- und Gebrauchswert) zur Bearbeitung von Denkmälern und plädierte dabei auf eine bewusste Auseinandersetzung mit den einzelnen Kategorien sowie individuellen Arbeiten.
Christine Gironcolis Kunstpraxis ist tief in ihrer dreißigjährigen Tätigkeit als Gemälderestauratorin verwurzelt. Ihr Atelier, in dem sie seit Mitte der 1990er-Jahre eigene Werke schafft, spiegelt diese Vergangenheit in Einrichtung und Mobiliar wider. Die tonnenschwere, dunkelblaue gusseiserne Pressmaschine sowie unterschiedlichste gebrauchte und neue Materialien wie Gegenstände, über die Jahre gesammelt und bewahrt, finden jetzt Einsatz in ihren Malereien. Gebrauchte Doublierleinwände, welche zur Stützung gealteter Leinwände mit schwacher oder spröder Gewebestruktur eingesetzt und im Anschluss ausgetauscht wurden, dienen Gironcoli als Ausgangspunkt. Neu aufgespannt, reagiert sie mit Ölfarbe und diversen Applikationen auf das Vorhandene. Stärkekleister und genannte Presse arbeiten für sie. Alterungsspuren werden in ihrer Wertigkeit erfasst und intuitiv mit Neuem verbunden, dessen Form, Farbe und Ästhetik sich dem Dagewesenen annähert. Das Neben- und Aufeinander verschiedener Oberflächen, grobe Gitter dicker Leinenfäden oder feinere Raster von Papieruntergründen, definieren den Charakter der Werke. Ebenso die teils abstrakten teils gegenständlicheren Zugaben.
Ein, von der Zeit im Atelier gealterter, Löffel aus Horn wurde auf die Leinwand betitelt Ar—Mut (2016) genäht. Die kleiderlosen Puppen aus dem Besitz der Künstlerin und ihres Bruders, selbstgemacht und geschenkt 1945 von der Großmutter zu Weihnachten, baumeln mittig im Werk Enfance (2015). Beide figurativen Elemente verstärken die angedeuteten politischen Inhalte dieser Bilder. Fragmente eines ovalen hölzernen Keilrahmens, in Doppelung als Art Ornament in den unteren Ecken der Arbeit ohne Titel von 2021 appliziert, die mittig die Zeichnung eines abstrakten Symbols zeigt, wirkt wie die Botschaft einer verschlüsselte Sprache. Das sumerische Zeichen für Schicksal kombiniert Gironcoli mit dem abgetrennten Teil einer alten bemalten Leinwand (ohne Titel, 2023–2024). Die lateinische Schrift diente einst als Widmung zu einem Heiligenporträt. Nun abstrahiert, aufgrund des fragmentarischen Zustandes und ausgewechselten Kontextes, entsteht ein neues Narrativ. Diese spinnt Gironcoli in einer Mischung aus Absicht und Zufall.
Christine Gironcoli (g. 1941 in Österreich) diplomierte 1961 in der Malerei-Klasse von Prof. Eduard Bäumer an der Universität für angewandte Kunst und erlernte im Anschluss den Beruf der Gemälderestauratorin. Ab Beendigung dieser Beschäftigung im Jahr 1995 widmet sie sich dem Schaffen eigener Kunstwerke. Christine Gironcolis Werk wurde erstmals 2019 in der Galerie Kai Middendorff in Frankfurt am Main einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert. 2026 findet ihre erste institutionelle Einzelausstellung statt.
Notizen
1 Alois Riegl, Der moderne denkmalkultus. Sein wesen und seine entstehung, Wien/Leipzig 1903, S. 22.