Das Denken beginnt nicht mit dem Wissen, sondern mit der Unruhe.

(Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 1958)

Die beste Art, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu entwerfen.

(Buckminster Fuller, Operating Manual for Spaceship Earth, 1968)

Prolog: Die Zerbrechlichkeit des Wirklichen

Wir stehen inmitten eines beispiellosen Paradoxons: Nie zuvor hatten wir so viele Daten, so viele Instrumente zur Vermessung und Analyse der Welt, und doch scheint unsere Fähigkeit, das Ganze zu begreifen, zutiefst geschwächt. Der Sinnzusammenhang, jene unsichtbare Struktur, die Einzelheiten zu einem kohärenten Ganzen verbindet, droht, unter der Last redundanter Informationen zu zerfallen. Wir messen, ohne zu verstehen; wir beschreiben, ohne zu erkennen. Dabei ist es nicht die Datenfülle, die uns entgleitet, sondern unser Vermögen, aus ihnen Bedeutung zu schöpfen. Die moderne Welt ist ein Schauplatz fragmentierter Realitäten. Algorithmische Filter verzerren unsere Wahrnehmung, während technologische Werkzeuge unsere Aufmerksamkeit zerstreuen. Was bleibt von einer Welt, die zunehmend in symbolischen Ersatzhandlungen versinkt? Hier zeigt sich die zentrale Fragestellung unserer Zeit: Wie können wir inmitten einer Flut von Wirklichkeiten den Sinnzusammenhang bewahren, der allein dem Menschlichen eine Richtung verleiht?

Philosophie tritt an dieser Stelle als unverzichtbares Medium hervor. Nicht, weil sie Antworten bereithält, sondern weil sie Fragen aufrecht erhält—Fragen nach dem, was jenseits der Oberfläche liegt. Der Sinnzusammenhang, verstanden als die Dynamik des Zusammenhangs von Sein, Bedeutung und Potenzialität, wird hier zum entscheidenden Ansatzpunkt. Was macht unsere Erfahrung wirklich? Und was macht sie relevant?

Sinnzusammenhang: Von Daten zur Bedeutung

Im aktuellen Diskurs über KI, Demokratie und zivilisatorischen Wandel wird oft die Frage nach der Handhabbarkeit von Komplexität gestellt. Doch Handhabbarkeit ist eine technologische Kategorie, während die eigentliche Herausforderung darin besteht, eine kohärente Orientierung im Fluss der Ereignisse zu bewahren. Sinn ist keine additive Eigenschaft; er entsteht in der Tiefe der Beziehungen. Ein Datensatz für sich ist nur ein Bruchstück, ein Symbol. Erst im Sinnzusammenhang mit anderen Elementen—historisch, kontextuell, ethisch—wird er zu etwas, das wir verstehen können. Hier setzt die Philosophie der Potenzialität an: Sie fragt nicht nur, was ist, sondern was werden könnte. In der Verschiebung von Bedeutung hin zur bloßen Information sehen wir den Verlust dieser Perspektive. Sinn ist jedoch mehr als eine Frage der subjektiven Interpretation. Er ist eine intersubjektive Konstante, die tief in kulturellen, epistemischen und ethischen Strukturen verankert ist.

Ein Fundament des Menschlichen

Der Anthropologe und Philosoph Helmuth Plessner beschrieb den Menschen als das „exzentrische Wesen“, das sich selbst und seine Welt immer von einem Standpunkt aus jenseits der unmittelbaren Erfahrung betrachtet. Sinnzusammenhang ist genau dieser Akt der Selbsttranszendenz, die Fähigkeit, das Einzelne in einem größeren Rahmen zu begreifen. Diese Fähigkeit ist in einer Welt bedroht, die uns in Momentaufnahmen und isolierten Fakten gefangen hält. Wir könnten sagen: Sinn ist nicht einfach da, sondern entsteht im Akt der Orientierung. Orientierung wiederum ist nicht bloß Navigation, sondern eine existenzielle Ausrichtung, die uns erlaubt, zwischen bloßer Realität und einer potenzialreichen Welt zu unterscheiden. Wahrheit ist in diesem Sinne keine Eigenschaft von Fakten, sondern ein Prozess, der sich im Werden vollzieht.

Dieser Prolog ist keine Klage, sondern ein Appell. In einer Zeit, in der sich die Menschheit in den Strukturen ihrer eigenen Schöpfungen verliert, ist die Rückbesinnung auf Sinnzusammenhänge nicht nur ein intellektuelles Anliegen, sondern eine moralische Notwendigkeit. Wir müssen die Frage stellen: Was macht unsere Existenz mehr als ein Bündel von Zufällen? Und wie können wir diesen Sinnzusammenhang wieder in den Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns stellen? Die Philosophie des Werdens, die dieses Essay entfalten möchte, bietet eine mögliche Antwort. Sie geht von der Überzeugung aus, dass Realität nicht nur das ist, was ist, sondern auch das, was werden könnte. In der Orientierung an Potenzialität, an der Dynamik des Möglichen, liegt die Chance, den Sinnzusammenhang zurückzugewinnen, der unsere Welt in ihrer Tiefe erfahrbar macht.

Die Illusion der Vollständigkeit: Scientismus als epistemische Sackgasse

Die Wissenschaft hat uns eine Sprache gegeben, die die Welt messbar und kalkulierbar macht. Sie hat uns Instrumente an die Hand gegeben, mit denen wir die feinsten Details des Universums entschlüsseln können—vom Verhalten subatomarer Partikel bis hin zu den kosmischen Strukturen des Weltalls. Doch diese Sprache, so präzise sie ist, birgt eine gefährliche Versuchung: die Illusion, dass das Messbare und Beobachtbare gleichbedeutend mit der Wirklichkeit sei. Wie ein Kartograph, der seine Karte mit der Landschaft verwechselt, erliegt die Wissenschaft im Bann des Scientismus der Überzeugung, dass ihre Methoden und Werkzeuge die vollständige Wahrheit erfassen könnten. Diese Illusion ist nicht nur ein Missverständnis, sondern eine epistemische Sackgasse. Wahrheit, so will ich argumentieren, ist kein statisches Produkt unserer Messungen, sondern ein dynamischer, offener Prozess.

Anton Zeilinger, Nobelpreisträger für Physik, brachte diese Grenze der Wissenschaft mit bemerkenswerter Präzision auf den Punkt: „Wir können messen, aber nichts über das Wesen der Realität aussagen.“ Diese Aussage erfordert eine kritische Reflexion über die Natur dessen, was wir wirklich zu wissen glauben. Die Wissenschaft basiert auf der Annahme der Wiederholbarkeit—der Idee, dass ein Experiment immer wieder reproduzierbare Ergebnisse liefern kann. Doch das Wesen der Realität, ihre tiefere Essenz, entzieht sich oft genau dieser Art von Reduktion. Das Singular, das Einmalige, das Nicht-Replizierbare ist der blinde Fleck wissenschaftlicher Methodik.

Ein Dialog mag diese Spannung verdeutlichen: Wissenschaftler: „Wissenschaft ist Fortschritt.“ Philosoph: „Aber wohin schreitet sie?“ Wissenschaftler: „Zur Wahrheit.“ Philosoph: „Oder nur zu nützlicheren Werkzeugen?“

Dieser Austausch legt eine fundamentale Kluft offen: Wissenschaft ist in ihrer Methodik darauf ausgelegt, Werkzeuge für die Analyse und Manipulation der Welt bereitzustellen. Doch Werkzeuge allein beantworten keine ontologischen Fragen. Sie liefern uns Daten, aber keine Deutung. Erkenntnis, im tiefsten Sinne, ist nicht die Anhäufung von Informationen, sondern die Fähigkeit, Bedeutung zu erschließen—eine Fähigkeit, die sich oft jenseits des unmittelbar Messbaren entfaltet. Die Versuchung des Scientismus liegt darin, Nützlichkeit mit Wahrheit gleichzusetzen. Wenn eine wissenschaftliche Methode erfolgreich ist—wenn sie Vorhersagen ermöglicht, Technologien antreibt oder Probleme löst—wird oft angenommen, dass sie uns auch die Wahrheit über die Welt liefert. Doch wie Heinz von Foerster es in seiner berühmten Maxime ausdrückte: „Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten wächst.“ Dieses Prinzip zeigt, dass Wissen uns nicht binden, sondern befreien sollte. Es sollte Raum schaffen, anstatt ihn zu fixieren—Raum für Potenzialität, für Möglichkeiten, die über das unmittelbar Sichtbare hinausreichen.

Foersters Ethik hebt hervor, dass Erkenntnis nicht darin besteht, die Welt zu reduzieren, sondern sie zu erweitern. Dies steht im Gegensatz zum Scientismus, der oft versucht, die Wirklichkeit in feste, unumstößliche Modelle zu pressen. Doch Modelle sind immer vereinfachte Repräsentationen, nie die Wirklichkeit selbst. Sie sind nützlich, ja, aber sie sind auch gefährlich, wenn sie als endgültige Wahrheiten missverstanden werden.

Die Rolle der Philosophie: Raum für das Unverfügbare

In dieser Sackgasse des Scientismus wird die Philosophie zu einem unverzichtbaren Partner der Wissenschaft. Sie erinnert uns daran, dass Erkenntnis nicht allein durch Daten und Experimente erreicht wird, sondern auch durch Intuition, Reflexion und die Fähigkeit, das Unverfügbare zu denken. Während die Wissenschaft darauf abzielt, das Greifbare zu entschlüsseln, fragt die Philosophie nach dem, was jenseits der Reichweite unserer Instrumente liegt. Sie sucht nach dem Zusammenhang, der das Einzelne mit dem Ganzen verbindet, und nach der Potenzialität, die das Wirkliche überschreitet. Die philosophische Perspektive ermöglicht es, die Wissenschaft nicht als Konkurrenz zur Wahrheit, sondern als Teil eines umfassenderen Erkenntnisprozesses zu begreifen. Sie zeigt, dass es nicht darum geht, die Welt zu „meistern“, sondern sie zu verstehen—und dieses Verständnis schließt immer auch das ein, was wir nicht wissen können.

Die Befreiung des Wissens: Potenzialität als Orientierung

Die Wissenschaft der Zukunft, wenn sie sich aus der Sackgasse des Scientismus befreien will, muss sich wieder einer Ethik der Potenzialität zuwenden. Dies bedeutet, Wissen nicht als statischen Besitz zu betrachten, sondern als dynamischen Prozess, der immer offen bleibt für das Unbekannte. In dieser Perspektive wird Wahrheit nicht als etwas Endgültiges verstanden, sondern als ein Horizont, der sich ständig erweitert. In einer Welt, die zunehmend von algorithmischen Systemen und datengetriebenen Entscheidungen geprägt ist, könnte diese Rückbesinnung auf die Potenzialität nicht dringlicher sein. Der Dialog zwischen Wissenschaft und Philosophie—zwischen dem Messbaren und dem Denkbaren—ist nicht nur eine intellektuelle Übung, sondern eine Notwendigkeit für das Überleben einer Kultur, die ihre Fähigkeit zu tiefem Verständnis nicht verlieren darf.

Wissenschaft ist unverzichtbar, aber unzureichend. Sie bietet uns Werkzeuge, aber keine Bedeutung. Sie vermisst die Welt, aber erkennt nicht ihr Wesen. Philosophie, als Komplement und Korrektiv, bietet uns die Möglichkeit, über die Grenzen des Messbaren hinauszublicken. Sie erinnert uns daran, dass Erkenntnis mehr ist als Daten und dass Wahrheit nicht nur das ist, was wir sehen, sondern auch das, was wir erahnen können. Die Sackgasse des Scientismus kann überwunden werden, wenn wir bereit sind, den Sinnzusammenhang wieder in den Mittelpunkt unserer Suche nach Wissen zu stellen. Nicht das Greifbare allein, sondern das Potenziale macht die Wirklichkeit reich und lebendig. Dieses Denken, diese Offenheit, ist die Grundlage jeder wirklichen Erkenntnis.

Potenzialität und Aktualität: Ein philosophischer Grundriss

Aristoteles unterschied zwischen Potenzialität (dynamis) und Aktualität (energeia), doch diese Unterscheidung wurde oft missverstanden. Potenzialität ist nicht die Abwesenheit von Sein; sie ist eine Kraft, die das Werden antreibt. Sie ist das, was die Grenze des Aktuellen durchbricht und Neues ermöglicht. Beispiel: Stellen wir uns eine leere Leinwand vor. Sie ist nicht „nichts“. Sie trägt in sich die Möglichkeit unendlich vieler Gemälde. Doch diese Möglichkeit ist nicht passiv; sie ist eine aktive Präsenz, eine Einladung zum Schaffen. Spinoza erweiterte diesen Gedanken in seiner Ethik. Sein Konzept des conatus, des Strebens jedes Wesens, sich selbst zu erhalten und zu entfalten, verbindet die Ontologie mit der Ethik. Für Spinoza ist Potenzialität nicht nur eine Eigenschaft des Seins, sondern eine Verpflichtung. Das Streben nach Selbstverwirklichung ist zugleich ein Streben nach Harmonie mit dem Ganzen.

Dies führt uns zu einer entscheidenden Frage: Wie können wir in einer Welt leben, die nicht nur das Gegebene, sondern auch das Mögliche ehrt? Diese Frage erfordert eine radikale Neuausrichtung unseres Denkens, weg von der Besessenheit mit Zuständen und hin zu einer Ethik des Werdens.

Sapiognosis: Die Kunst, Möglichkeiten zu denken

In einer Gegenwart, die sich zunehmend in den Datenmengen ihrer eigenen Erfindung verliert, wird Wissen oft mit einer Bestandsaufnahme des Gegebenen verwechselt—eine Sammlung von Fakten, die scheinbar alles erklären und doch das Wesentliche verfehlen. Aber was ist Wissen, wenn es uns nicht darüber hinausführt, was wir bereits sehen, hören und berechnen können? Wenn es nicht wagt, den Horizont des Möglichen zu berühren? Mit dem Konzept der Sapiognosis möchte ich auf eine epistemische Haltung hinweisen, die weniger den Besitz von Antworten als vielmehr die Kunst des Fragens kultiviert. Sapiognosis ist die Orientierung auf das Noch-Nicht. Sie ist kein Wissen im Sinne statischer Definitionen, sondern eine dynamische Praxis, die das Potenzial des Möglichen sichtbar macht. Sie beginnt dort, wo das Festgelegte endet.

Das Unvollständige als Quelle des Denkens

Kurt Gödel formulierte mit seinen Unvollständigkeitssätzen eine Einsicht, die weit über die Mathematik hinausreicht: Kein formales System kann in sich vollständig sein. Es bleibt stets etwas, das jenseits seiner Grenzen liegt—etwas, das nicht bewiesen, aber auch nicht ignoriert werden kann. Gödel zwingt uns, die Grenzen unseres Denkens nicht als Sackgassen, sondern als Schwellen zu begreifen, die uns zu neuen Möglichkeiten führen. Diese Einsicht ist nicht bloß eine intellektuelle Herausforderung; sie ist ein existenzielles Angebot. Sie lehrt uns, dass Wissen nicht in der Beherrschung der Welt liegt, sondern in der Fähigkeit, sie immer wieder neu zu denken. Es ist eine Einladung, die Welt nicht als abgeschlossene Wirklichkeit, sondern als offenen Prozess zu betrachten.

Die Praxis der Ermöglichung

Sapiognosis steht in direktem Gegensatz zu einem Wissen, das auf Kontrolle abzielt. Sie fragt nicht: „Wie können wir die Realität beherrschen?“, sondern: „Welche Bedingungen müssen wir schaffen, damit Neues entstehen kann?“ Heinz von Foersters berühmte Maxime, „Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten wächst“, könnte als Leitsatz dieser Haltung dienen. Wissen in diesem Sinne ist kein Besitz, sondern ein Handeln. Es schafft Räume, anstatt sie zu schließen. Es erweitert Möglichkeiten, anstatt sie zu beschneiden.

Ein Gedankenspiel mag dies verdeutlichen: Fragender: „Wenn Wissen nicht zur Kontrolle dient, wozu dann?“ Antwortender: „Zum Ermöglichen.“ Fragender: „Aber ist das nicht ein Verlust von Macht?“ Antwortender: „Es ist der Gewinn an Freiheit.“

Sapiognosis setzt an der Schnittstelle zwischen Erkenntnis und Ethik an. Sie fordert uns auf, nicht zu fragen, was wir wissen, sondern wofür wir unser Wissen einsetzen. Sie verschiebt den Fokus von der Beherrschung des Gegebenen zur Befähigung des Werdenden.

Wissen als kollektiver Prozess

Diese Haltung verlangt auch eine radikale Neuorientierung unseres Bildungssystems, unserer Wissenschaft und unserer Technologien. Statt Wissen primär als Ressource zur Stabilisierung bestehender Strukturen zu betrachten, müssten wir es als Werkzeug zur Befreiung und Erweiterung von Möglichkeiten verstehen. Bildung könnte sich von einer Übermittlung von Fakten hin zu einer Praxis der Kultivierung von Fragen wandeln. Die infosomatische Wende, die ich in anderen Kontexten ausgearbeitet habe, knüpft hier an. Sie beschreibt den Übergang von hierarchischen Wissensmodellen zu organischen, netzwerkartigen Strukturen, die auf Selbstorganisation und Emergenz basieren. In einem solchen Rahmen wird Wissen nicht mehr zur Rechtfertigung des Status quo verwendet, sondern zur Schaffung neuer Wege des Denkens und Handelns.

Ein neuer epistemischer Rahmen

Sapiognosis fordert uns auf, unsere epistemischen Modelle nicht als Endpunkte, sondern als provisorische Brücken zu betrachten. Diese Brücken verbinden uns nicht nur mit dem, was wir wissen, sondern auch mit dem, was wir noch nicht zu wissen wagen. Sie eröffnen Horizonte, anstatt sie zu schließen. Es ist diese Haltung, die uns die Möglichkeit gibt, in einer Welt, die zunehmend von Daten und Algorithmen dominiert wird, unsere Menschlichkeit zu bewahren. Denn Sapiognosis ist mehr als ein Konzept; sie ist eine Praxis, die uns daran erinnert, dass Wissen nicht darin besteht, die Welt zu besitzen, sondern sie zu gestalten—gemeinsam, offen, und im Einklang mit dem, was noch werden kann.

Eine Einladung zum Denken

Am Ende steht keine endgültige Antwort, sondern eine Einladung: Sapiognosis fordert uns auf, die Welt nicht nur zu erkennen, sondern zu ermöglichen. Sie lädt uns ein, unsere epistemischen Werkzeuge nicht als Grenzen, sondern als Sprungbretter zu nutzen. Und sie erinnert uns daran, dass Wissen keine Last sein muss, sondern eine Leichtigkeit—die Leichtigkeit, sich immer wieder neu auf das Werdende einzulassen. In einer Welt, die oft von ihrer eigenen Komplexität überfordert scheint, ist dies vielleicht die wichtigste Botschaft: Wissen ist kein Besitz, sondern eine Praxis. Und diese Praxis beginnt mit der Bereitschaft, die Frage neu zu stellen.

Die Krise der Governance: Jenseits von Machtkämpfen

Die moderne Demokratie ist in vielerlei Hinsicht eine Technologie der Komplexitätsreduktion. Wahlen, so unverzichtbar sie sein mögen, reduzieren die Vielfalt menschlicher Perspektiven auf einfache binäre Entscheidungen. Doch kann Demokratie mehr sein? Kann sie ein Raum für Potenzialität werden? Das Konzept der Sapiokratie bietet hier eine mögliche Antwort. Sapiokratie ist keine Alternative zur Demokratie, sondern eine Ergänzung, die Bildung, Selbstregulation und epistemische Verantwortung in den Vordergrund stellt. Sie schafft Bedingungen, unter denen Entscheidungen nicht durch Machtkämpfe, sondern durch emergente Prozesse getroffen werden.

Illustration: In einer sapiokratischen Gesellschaft könnten Entscheidungen durch fortlaufende, partizipative Prozesse getroffen werden, die auf Bildung und Dialog basieren. Anstelle von Momentaufnahmen bietet sie eine kontinuierliche Reflexion, die Raum für Potenzialität lässt.

Die Ästhetik der Selbstregulation: Ein Prinzip für Zivilisationen

Friedrich Hayeks Metapher der Gesellschaft als Garten, nicht als Maschine, ist hier von zentraler Bedeutung. Ein Garten gedeiht nicht durch Zwang, sondern durch Pflege. In ähnlicher Weise muss eine Zivilisation Bedingungen schaffen, in denen das Leben sich selbst regulieren kann. Die infosomatische Wende—die Verschmelzung biologischer, sozialer und technologischer Systeme—bietet eine Chance, diesen Gedanken zu verwirklichen. Sie lädt uns ein, die Komplexität nicht zu fürchten, sondern zu kultivieren.

Epilog: Ein offener Horizont

Philosophie ist keine bloße Antwortmaschine, kein Instrument zur Festlegung oder Befriedigung. Sie ist vielmehr ein Medium des Fragens—ein Raum, der die Essenz des Unbekannten schützt und die Grenzen des Gewohnten überschreitet. Sie bewahrt jene Fragen, die unsere Existenz nicht nur beleben, sondern vertiefen, indem sie uns zu einer ständigen Auseinandersetzung mit dem Neuen und dem Ungewissen herausfordern. In einer Zeit, die von der Fixierung auf das Gegebene und Messbare geprägt ist, zeigt uns die Philosophie einen anderen Weg: Sie lehrt uns, das scheinbar Fertige zu hinterfragen und das, was sein könnte, zu erahnen. Die Ethik des Werdens—die Bereitschaft, sich auf die Potenzialität einzulassen—öffnet uns für eine Welt, die nicht abgeschlossen, sondern unendlich reich an Möglichkeiten ist.

Das Wesentliche liegt nicht im Sein, in der Behauptung dessen, was ist. Es liegt auch nicht in der bloßen Verfügbarkeit von Antworten oder in der Erfüllung pragmatischer Anforderungen. Es liegt im Werden, in der Fähigkeit, die Räume zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen zu sehen, zu gestalten und ihnen Bedeutung zu verleihen. Ein offener Horizont ist keine passive Offenheit. Er verlangt von uns, Verantwortung für das zu übernehmen, was in dieser Weite entstehen kann—für die Möglichkeiten, die wir schaffen, und für die Bedingungen, unter denen sie sich entfalten können. Dieses Engagement fordert uns auf, nicht nur Zuschauer des Werdens zu sein, sondern aktive Mitgestalter eines Prozesses, der das Potenzial des Menschlichen in all seinen Dimensionen kultiviert.

Wenn Philosophie heute eine Aufgabe hat, dann ist es, diese offenen Horizonte zu bewahren. Sie ist nicht dazu da, Realität zu stabilisieren oder vermeintliche Wahrheiten zu untermauern, sondern die Tiefe und Dynamik des Unbekannten in den Mittelpunkt zu stellen. In diesem Sinn ist sie eine Praxis der Freiheit: eine Freiheit, die sich nicht im Akt der Wahl erschöpft, sondern im Mut, neue Wege zu erdenken, zu begehen und gemeinsam zu gestalten.

Quellen

Foerster, H. von. „KybernEthik“. Berlin, Merve Verlag, 1993.
Gödel, K. „Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica“. Monatshefte für Mathematik und Physik, 38, 1931.
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Merleau-Ponty, M. “Phénoménologie de la perception”. Paris, Gallimard, 1945.
Nietzsche, F. „Also sprach Zarathustra“. 1883.
Popper, K. “The Open Society and Its Enemies”. London, Routledge, 1945.
Spinoza, B. (1677). „Ethik“. 1677.
Tsvasman, L. „Das große Lexikon Medien und Kommunikation“. Wiesbaden, 2007.
Tsvasman, L. & Schild, F. “AI-Thinking”. Baden-Baden, 2019.
Tsvasman, L. „Infosomatische Wende“. Baden-Baden, 2021.
Tsvasman, L. “The Age of Sapiocracy”. Baden-Baden, 2023.
Zeilinger, A. “Nobel Lecture”. Stockholm, The Nobel Foundation, 2022.