Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten vergrößert wird.
(Heinz von Foerster)
Wir sind zur Freiheit verdammt.
(Jean-Paul Sartre)
Diese Zitate verdeutlichen die entscheidenden Prinzipien der menschlichen Existenz: Freiheit und Potenzial. Während von Foerster auf die Erweiterung von Möglichkeiten abzielt, sieht Sartre Freiheit als unvermeidlich – eine Bürde, aber auch eine Quelle für Wahlmöglichkeiten und Verantwortung. Diese beiden Ideen bilden den Grundstein für eine neue Perspektive auf die Realität und Potenzialität.
Die Täuschung durch die Vorstellung der Aktualität: Realität als Potenzial
Unsere alltägliche Wahrnehmung täuscht uns oft, indem sie uns eine stabile und fixierte Realität vorgaukelt, die als Grundlage für unser Handeln dient. Diese Vorstellung von „Aktualität“ ist jedoch eine Konstruktion, die uns von einer tieferliegenden Wahrheit ablenkt: Nur Potenzial ist real. Die Idee der fixierten Realität ist ein Produkt kultureller und sozialer Übereinkünfte, aber die eigentliche Wirklichkeit ist dynamisch und ständig im Fluss. Es ist ein ständiges Entfalten von Möglichkeiten, die durch das bewusste Handeln des Subjekts freigesetzt werden.
Quantenphysik und die Unbestimmtheit der Realität
Die moderne Quantenphysik hat unser Verständnis von Realität dramatisch verändert, insbesondere durch das Heisenbergsche Unschärfeprinzip, das besagt, dass Teilchen in einem Superpositionszustand existieren, bis sie durch Beobachtung festgelegt werden. Dies zeigt, dass Realität nicht festgelegt ist, sondern ein dynamisches Wechselspiel zwischen Beobachtung und Potenzial darstellt.
In ähnlicher Weise verhält es sich mit dem menschlichen Verständnis von Realität: Was wir als „wirklich“ bezeichnen, ist nicht fixiert oder vorbestimmt. Stattdessen erleben wir eine Verhandlung von Möglichkeiten, die durch unsere Entscheidungen in die Wirklichkeit überführt werden. Realität ist also keine abgeschlossene Einheit, sondern eine kollabierte Möglichkeit, die durch das aktive Handeln des Subjekts festgelegt wird. Das berühmte Gedankenexperiment Schrödingers Katze verdeutlicht dieses Prinzip: Die Katze ist sowohl lebendig als auch tot, bis eine Entscheidung getroffen wird, ihren Zustand festzulegen. So befinden auch wir uns in einem ständigen Schwebezustand von Potenzialität und Entscheidung – die Aufgabe besteht darin, das Potenzial zu erkennen und bewusst zu realisieren.
Edmund Husserls Phänomenologie: Subjektive Orientierung als Schöpfung der Wirklichkeit
Der deutsche Philosoph Edmund Husserl führte die Idee ein, dass die Realität nicht durch objektive Tatsachen allein definiert wird, sondern durch die Art und Weise, wie wir uns als Subjekte in der Welt orientieren. Die Subjekte sind keine passiven Beobachter einer vorgefertigten Welt, sondern aktive Schöpfer. Sie erschließen Potenziale, indem sie sich bewusst auf die Möglichkeiten ausrichten, die ihnen die Welt bietet. Intersubjektivität ist dabei von zentraler Bedeutung: Realität wird nicht nur individuell, sondern durch einen kollektiven Austausch von Perspektiven und Bedeutungen geschaffen. Dieser Gedanke deckt sich mit der modernen kybernetischen Vorstellung, dass menschliche Systeme auf Interaktion und Feedback basieren. Realität ist eine kollektive Konstruktion, die durch das ständige Zusammenwirken von Individuen entsteht. Jeder trägt durch seine Entscheidungen und Handlungen zur Formung dieser Realität bei.
Jenseits der Machtstrukturen: Potenzial statt Status quo
In der heutigen Welt dominieren oft redundante Machtstrukturen, die den Status quo bewahren, anstatt das Potenzial der Menschen freizusetzen. Dies ist besonders in den Bereichen Führung, Bildung und Governance zu beobachten. Diese Strukturen dienen dazu, bestehende soziale Rollen zu verfestigen, wodurch das individuelle Potenzial eingeschränkt wird. Anstatt Menschen in vorgefertigte Rollen zu zwängen, sollte der Fokus auf die Emanzipation und Erhebung von Potenzial gerichtet werden. Wahre Führung besteht nicht darin, Ergebnisse zu diktieren, sondern darin, Menschen zu befähigen, ihre eigenen latenten Potenziale zu erkennen und zu verwirklichen. In ähnlicher Weise sollte Bildung nicht als Prozess des Wissensvermittelns verstanden werden, sondern als Mittel zur Entfaltung des inneren Genies jedes Individuums. Der kybernetische ethische Imperativ besteht darin, stets so zu handeln, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten erhöht und das Potenzial der Beteiligten erweitert wird. Jede Entscheidung sollte entweder bestehende Strukturen aufbrechen oder neue Wege für Wachstum eröffnen.
Potenzial als wahre Realität: Die Rolle der KI
Wenn wir akzeptieren, dass Potenzial die einzige wahre Realität ist, müssen ethische und strategische Rahmenbedingungen entsprechend angepasst werden. Dies gilt insbesondere für die Entwicklung von KI-Systemen. KI sollte nicht nur auf der Verarbeitung aktueller Daten basieren, sondern auf der Fähigkeit, menschliches Potenzial zu erkennen und zu fördern. Systeme müssen in der Lage sein, sich an neue und sich entwickelnde Zukünfte anzupassen, um den Menschen zu helfen, ihre gegenwärtigen Einschränkungen zu überwinden. In der KI-Ethik sollte der Fokus daher von der Vermeidung von Schaden hin zur aktiven Förderung von Wachstum und Potenzialverwirklichung verlagert werden. Jede Entscheidung, die im Rahmen des KI-Designs getroffen wird, lässt potenzielle Zukünfte in eine konkrete Realität kollabieren. Es liegt in unserer Verantwortung, solche Zukünfte zu wählen, die das menschliche Potenzial maximieren und die Wahlmöglichkeiten erweitern – gemäß Heinz von Foersters Prinzip.
Mitschöpfung einer neuen Wirklichkeit: Intersubjektive Realität
Die Schaffung von Wirklichkeit ist ein kollektiver Prozess, der durch das Zusammenwirken verschiedener Perspektiven und Stimmen ermöglicht wird. Kein Einzelner kann das volle Potenzial der Welt ausschöpfen – es bedarf der Kooperation und des Austauschs, um Potenziale zu erkennen und zu realisieren. In diesem Prozess ist die Intersubjektivität von zentraler Bedeutung. Realität entsteht durch das gemeinsame Erkennen, Erheben und Verwirklichen von Potenzialen in einen gemeinsamen, geteilten Raum. Dies ist der Kern dessen, was ich als sapiokratischen Rahmen bezeichne – eine Gesellschaftsform, in der Governance, Bildung und Innovation vollständig auf die Emanzipation von Potenzial ausgerichtet sind. In einer solchen Gesellschaft geht es nicht darum, bestehende Machtstrukturen aufrechtzuerhalten, sondern das kollektive Entstehen menschlicher Genialität zu fördern. Dies erfordert eine radikale Neuorientierung unserer Institutionen hin zu Systemen, die kontinuierliches Lernen, kreatives Denken und kollektives Wachstum unterstützen.
Die neue Wirklichkeit: Potenzialverwirklichung und kreative Existenz
Letztendlich ist Realität nichts, was uns vorgegeben wird, sondern etwas, das wir durch unser bewusstes Handeln und unsere Entscheidungen erschaffen. Die wahre Aufgabe von Führung, Bildung und Innovation besteht darin, die latenten Möglichkeiten der Welt zu erheben und durch kollektives Handeln zu verwirklichen. Wir sind nicht an die Schatten der „Aktualität“ gebunden, sondern die Agenten ihrer Transformation.
In einer Welt, in der Potenzial die einzig wahre Realität ist, besteht unsere Aufgabe darin, uns ständig auf diejenigen Möglichkeiten auszurichten, die das menschliche Potenzial befähigen, emanzipieren und erweitern. Dies ist die Essenz wahrer kreativer Existenz: Nicht in den engen Grenzen vorgezeichneter Realitäten zu verharren, sondern die unendlichen Landschaften der Möglichkeiten aktiv zu gestalten. Nur ein vollständig emanzipiertes Subjekt, das die Tiefen des Potenzials durchdringt, kann das metaphysische Prinzip hinter der Realität verstehen. In einer Welt, die durch verzerrte Symbole und falsche Komplexitäten geprägt ist, muss die Wirklichkeit durch eine bio-sozio-technologische Infrastruktur unterstützt werden, die das sinnorientierte Subjekt befreit und das volle Potenzial der Menschheit entfaltet.