Mein Buch "Cerrando el círculo" wurde von Carsten Mainz ins Deutsche übersetzt. Um es zu feiern überlasse ich Euch eine der Geschichten daraus als Vorschau. Genießen Sie es!
Das Geheimnis
Seit drei Wochen hatte Ernesto keine Nacht mehr geschlafen. Schlechte Träume und Stimmen bewohnten sein Inneres und woher sie kamen, wusste er nicht. Eine Stimme überwog die Anderen in seinem Bewusstsein. Er lag auf dem Sofa und schien schon nicht mehr zu atmen, seine Gesichtszüge erschienen erstarrt in einer letzten Grimasse von Schmerz oder Hoffnung. Seine Arme ruhten auf seinem Bauch und dann überkam ihn die Erinnerung. Seine Kinder hatten das Alter erreicht, in dem die Wahrheit ein bisschen mehr Gewicht bekommt, als dieser Augenblick einer Enttäuschung über eine Andere, die man für sicher gehalten hatte, wobei erstere in irgendeinem ungemütlichen Winkel eingesperrt gewesen war. Seiner Familie gegenüber hatte er nie vorgehabt die Wahrheit zu verheimlichen, aber er fürchtete, dass durch die Umstände kein Verständnis bei Ihnen vorhanden sein würde. Daher erinnerte er sich, ohne ein Wort zu äussern. Ernesto ahnte, dass etwas in ihm abstarb, seit er in seiner neunten schlaflosen Nacht gespürt hatte, dass die Müdigkeit und der Gedanke sich zu einer Säure destillierten, die ihn auflöste. Schweigsam, fast träge verschwieg er das Geheimnis sogar seiner Ehefrau, obwohl sie die Einzige war, der er seine andere große Wahrheit anvertraut hatte. Letztendlich schreckte der Tod ihn nicht, er kannte ihn gut, er hatte ihm ins Gesicht gesehen und in seinem Inneren würde dieses nur das zweite Mal sein.
„Teresa, Teresa“, hallte die Stimme in ihm wieder, ohne dass er gewusst hätte, ob es nicht in Wirklichkeit, eher als das was er zu hören ersehnte, seine Gedanken waren oder irgendeine seiner Erinnerungen. Er erinnerte sich daran, wie seine Mutter ihn mit den Armen über den Kopf hob und mit einem verlorenen Blick, als ob sie eher einen Wunsch beobachten würde, jenen Namen flüsterte: Teresa. Bei ihrem Tod erstaunte er eher über den Inhalt des Sarges, der in seiner Kindheit ständig verschlossen blieb, gehegt eher im Vergessen, als würde sein Inhalt statt eines einfachen Tabus etwas des Tageslichtes Unwürdiges umschliessen, was aber dennoch derart herzzerreissend war, als dass man sich davon einfach so hätte befreien können. Beim Öffnen sah er, dass er fast leer war. Ein starker Geruch nach Zeder schützte seinen spärlichen Inhalt, ein ärztliches Schreiben und ein paar Mädchenschuhe, himmelblau mit zarten goldenen Quasten.
Ernesto ging von einem Andenken zum Nächsten, wobei er sich von seiner Erinnerung mitziehen ließ, ohne Kraft zu haben, die Richtung zu bestimmen.
Er erinnerte sich an jedes Wort des alten Scheins, obwohl ihm die Tinte auf dem abgenutzten Papier nach all den Jahren unauslöschlich vorkam, was ihm als unheilvoll erschien: „…und daher, trotz der Abtreibung und der vergangenen Zeit, bestätigen die Untersuchungen das Vorhandensein eines weiteren noch lebenden Fötus, sozusagen eine bestehende Schwangerschaft…“
„Gustavo…“, hatte sein bester Freund ihm in einem vergessenen Café der Stadt zu sagen begonnen. Gustavo schwieg, schnitt die Worte, die aus seinem Mund herauskommen wollten, abrupt ab. Dann schaute er Ernesto überrascht an, als ob er sich fürchtete, ihn direkt anzusehen. Irgendetwas war in seinem Antlitz. „Ja, ja… Ich kenne diese Stirnfalten, die ich seit dreißig Jahren sehe. Weisst du, wie ich sie verabscheue, du weisst es genau — fuhr Gustavo in vorwurfsvollem Ton fort. Manchmal verstehe ich dich nicht, du bist mir fremd, als würde ich dich nicht kennen. Irgendwas ist doch mit dir, warum sagst du es mir nicht einfach? „Gustavo, schau mich bitte an, schau mich an.“
Gustavo schaute ihn eindringlich an. Er bemerkte jetzt etwas anderes an seinem Freund und nahm wahr, dass es wohl schon da war, als sie sich kennen gelernt hatten, bisher hatte er es jedoch nicht festgestellt. Er fühlte ein nahe bevorstehendes Bekenntnis.
„Was würdest du sagen, wenn ich dir anvertraue, dass nicht ich jetzt zu dir spreche, sondern vielleicht sie?“
„Was zum Teufel sagst du da?“
„Sie, Teresa… Sie hätte Teresa heissen sollen.“
„Ich verstehe kein Wort. Und wer ist Teresa, verdammt nochmal?“
„Habe ich dir mal von der Abtreibung bei meiner Mutter erzählt?“
„Ja, irgendwann mal, ich erinnere mich“
„Wir waren zu zweit. Der andere Fötus war der eines Mädchens.“
„Ist das die Teresa, von der du redest?“
„Ja, aber sie ist überhaupt nicht gestorben, ihre Seele lebt in mir.“
Gustavo blickte zur Seite und nahm einen langen Zug an seiner Zigarre. Dann sah er ihn eindringlich an, zerstreut, als würde das, was er gerade gehört hatte, die abscheulichste Verirrung beinhalten.
„Was für einen Quatsch erzählst du mir da? Was ist los mit dir, Ernesto?“
„Scheint es dir verrückt zu sein oder vielleicht albern? Hat es für dich den Anschein, dass wir bloss aus Materie bestehen? Hast du nicht darüber nachgedacht, was die Seele ist und seit wann sie schon in uns lebt? Ich schon, ich weiss, dass die von ihr sich auf meinen Körper übertragen hat. Ich kann nicht glauben, dass der Unterschied zwischen einem Schimpansen und mir ein paar Gene sein sollen und eine höhere Intelligenz, das scheint mir zu einfach gedacht. Die Seele macht den Unterschied. Unsere Seelen wohnen zusammen.“
„Du weisst, dass ich Atheist bin, mich bekümmert das alles nicht.“
„Wer hat Gott gesagt?“
„Ich erkläre es dir dann mal: Wenn ich sterbe, dann verfault irgendwann mein Körper und von mir wird nichts bleiben als die Erinnerung derer, die sich an mich erinnern, falls sie sich an mich erinnern. Und damit basta. Es gibt nichts auf der anderen Seite, es gibt keine andere Seite. Ein Schimpanse und ich, wie du gesagt hast, wir sind Materie mit einer unterschiedlichen Verteilung, die von der eines Steins noch mehr abweicht. Ach, was ist denn das Leben! Ich sage dir, das Leben ist ein unbeständiger Zustand der Materie, das Beständige und Dauerhafte ist das Unbeseelte! Was du hast, mein Freund, kann Ermüdung sein, wer weiss, oder eine multiple Persönlichkeit oder sowas. Wenn du willst, ich kenne da einen Spezialisten, einen der Besten, ich versichere es dir. Es gab eine lange Stille, den ängstlichen Atemzug eines Ertrinkenden und den Versuch, sich an irgendetwas festzuklammern. Hinten auf dem Platz flogen die Tauben einmütig eine launenhafte Runde. Der Regen liess nicht auf sich warten, erbärmlich wie die Stille selbst. Die Stadt wurde entvölkert und verschlafen, harmlos. „Wenn ich dich nicht kennen würde, Ernesto… Sieh mal diese Geschichte von deiner Teresa… Dieser Blödsinn…“
Ernesto blieb regungslos, unnahbar. In der Dimension seiner Erinnerung beobachtete er etwas, das ihn mit kribbeligem Grausen erfüllte. Er beobachtete, wie seine Frau neben ihm war, vielleicht auch schlaflos seit der ersten Nacht. Aber er hatte es bis jetzt nicht bemerkt. Er fühlte sich wieder erstarkt, wenn auch gleichzeitig eigennützig. Aber er sagte nichts, verhielt sich still, tat fast so, als sei er endlich eingeschlafen. Dann spürte er, wie sie sein Haar streichelte und seine Stirn küsste.
„Ruh dich aus, Geliebter. Gustavo hat mir Anfang Juni von dem Problem erzählt, aber ich habe keine Gelegenheit gefunden, es dir zu sagen. Ruh dich aus.“
Als sie ins Bett zurückgekehrt war, hallten im Haus nur noch die Stimmen aus seinem Inneren wieder, und warum auch immer stellte er fest, dass jene Fauna von multiplen Wesen, die immer da gewesen waren, sich verflüchtigten, wobei von ihren lebendigen Abbildern, ihren einzigartigen Stimmen und ihrem unaussprechlichen Gefühlsgedächtnis nichts übrig blieb, als die Erinnerung, das vage Bild eines langen Albtraums. Er fühlte sich einzigartig als Mensch, einzigartig viel