Es war ein typischer Sonntagnachmittag in Buenos Aires, der Himmel der Hafenstadt zeigte sein typisches Blau, die Sonne über dem Zoo ließ das Grün der alten Bäume leuchten, und vor dieser Szenerie spielte sich etwas sehr Interessantes ab. Zwei Kinder machten Musik für die anderen Kinder. Beide waren im Jahr 1900 geboren, und beide sollten in der Welt des Tango Geschichte schreiben. Sie waren gerade einmal elf Jahre alt, der eine spielte Geige, der andere Klavier, sie trugen kurze Hosen und waren ziemlich schüchtern, aber äußerst talentiert. Die Jungen, von klein auf gute Freunde, waren so gut, dass der städtische Zoo ihnen vier Pesos pro Vorstellung zahlte. Der Geiger hieß Juan D’Arienzo und der Klavierspieler Ángel D’Agostino.
Juan D’Arienzo, geboren am 14. Dezember 1900 im Viertel Congreso in der Straße Victoria (heute Hipólito Yrigoyen), Ecke Cevallos, war das älteste Kind einer italienischen Familie, die sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Argentinien angesiedelt hatte, und er sah seiner Mutter Doña Amalia Améndola sehr ähnlich. Als Handelsvertreter zweier damals renommierter Firmen konnte Vater Alberto D’Arienzo seiner Familie einen hohen Lebensstandard bieten, und Doña Amalia war die Schwester von Don Alfredo Améndola, Besitzer einer erfolgreichen Schallplattenfirma. Juan hatte zwei Geschwister, Ernani und Josefina. Ernani wurde später Pianist und Jazz-Schlagzeuger, und Josefina, ebenfalls Pianistin, reüssierte als Sopranistin.
Als der kleine Juan eingeschult wurde, zog die Familie in die Straße Pichincha 528 im Viertel Balvanera. Juan besuchte die Grundschule in der Straße México und wechselte später auf die Oberschule Mariano Moreno.
Seine erste Anstellung bekam der junge Juan bei Avelino Cabezas in der Straße Cuyo 522 – 562 (heute Straße Sarmiento), einem Kaufhaus vergleichbar Gath & Chaves oder Harrods, wo er in der Musikalienabteilung arbeitete und auf diese Weise viel Einblick in ein Gebiet bekam, der den meisten anderen Musikern der damaligen Zeit fehlte.
Später wechselte er zu Taurell in der Straße Sarmiento, wo er Klaviere und Geigen testete und die Kunden mit modernen Musikstücken unterhielt, um den Verkauf von Partituren und Instrumenten zu fördern. Auch sein alter Freund Ángel D’Agostino arbeitete bei Taurell.
Wir Tangotänzer haben es Juans Mutter Doña Amalia zu verdanken, dass wir heute zur Musik des größten Tangomusikers tanzen können, denn im Gegensatz zu Alberto, der wollte, dass sein Sohn Anwalt wurde, hat sie Juan immer in seinem Wunsch unterstützt, Musiker zu werden. Bereits im Alter von sechzehn Jahren gab Juan im Duo mit dem Pianisten Eduardo Bonessi Privatkonzerte. Später lernte er durch seinen Freund De Bassi den großen Komponisten der Guardia vieja Carlos Posadas kennen und trat als zweiter Geiger in dessen Orchester ein. Unter Posadas, dem Komponisten von Tangos wie „El Retirao“ und „Cordón de Oro“, spielte Juan im Theater Avenida, bis der Meister ganz plötzlich verstarb. Auf der Suche nach neuen Aufgaben tat er sich wieder mit seinem alten Freund D’Agostino zusammen, mit dem er als Duo das berühmte Tanzpaar „El Mocho“ und „La Portuguesa“ bei Auftritten in diversen Salons begleitete. Die beiden Freunde waren so erfolgreich, dass das Kino Paramount sie anheuerte, um Stummfilme musikalisch zu untermalen. Zu diesem Zweck gründeten D’Arienzo und D’Agostino ihr erstes Tangoorchester. In den darauffolgenden Jahren sammelte Juan viele, teilweise entscheidende Erfahrungen. Das Orchester wuchs, und im Jahr 1927 bekam es mit Carlos Dante seinen ersten Sänger. Ab 1928 spielte das Orchester auch im Kabarett Florida Pigall in der Galería Guëmes und im Cabaret Chantecler, das viele Jahre lang das Stammhaus des Orchesters bleiben solle. Das Jahr 1928 markiert einen Höhepunkt im Leben des Musikers Juan D’Arienzo, denn in jenem Jahr nahm er mit dem Sänger Carlos Dante, damals gerade zweiundzwanzig Jahre alt, sein erstes Stück auf Schallplatte auf, den Tango „Funyi Claro“. Unterstützt wurde er dabei von seinem Onkel Amendola, dem Bruder seiner Mutter und Eigentümer der Firma Electra. Juan war nicht nur ein guter Musiker, sondern auch ein hervorragender Komponist, und in jenem Jahr nahm er noch weitere Stücke auf, die zu großen Erfolgen wurden und heute noch in den Milongas laufen, Stücke wie zum Beispiel „Nada Más“ (das damals den Titel „Callejas Solo“ trug) und „Chirusa“. Es war der Beginn einer unvergleichlichen Karriere als Tangomusiker. 1928 nahm D’Arienzo insgesamt einunddreißig Stücke auf.
1929 wurde Ciriaco Ortiz durch einen blutjungen Musiker ersetzt, der nicht nur Bandoneon spielte, sondern auch sang, und den das Plattenlabel Electra später als Sänger großmachte. Der junge Neuling war Francisco Fiorentino, der einer der Großen der Tangoszene der vierziger Jahre wurde. 1929 nahm D’Arienzos Orchester zehn Stücke auf, darunter „Victoria“, „Soy un Arlequín“ und „Mala“.
Und dann kam das Jahr 1930. Stellen Sie sich eine laue Nacht vor, Sie putzen sich heraus und machen sich auf den Weg zur Straße Paraná, vielleicht zur Hausnummer 440 oder vielleicht zu einem Gebäude im französischen Stil zwischen der Avenida Corrientes und der Avenida Lavalle, Sie stehen vor der Tür, schauen an dem Gebäude hoch und unter dem Schriftzug „Cabaret Chantecler“ verkündet eine blinkende Leuchtreklame: „Heute Orchester Juan D’Arienzo“. Am Eingang werden Sie von „El Príncipe Cubano“ empfangen und zu einem Tisch geführt. Am Nebentisch sitzen Carlos Gardel, ein guter Freund von Juan D’Arienzo, der Jockey Irineo Leguizamo und der Sänger José Razzano, alle drei Stammgäste des Chantecler. An einem anderen Tisch sitzen Celedonio Flores, Enrique Cadícamo und Pepita Avellaneda. Nach und nach trudeln berühmte Schauspieler wie Tito Lusiardo und Pedro Quartucci ein. Sie bestellen Champagner und genießen ein Orchester, das Tangogeschichte schreiben wird.
D’Arienzo hielt dem Chantecler dreißig Jahre lang die Treue, bis das Gebäude abgerissen wurde. Zum Abschied komponierte er den Tango „Adiós Chantecler“ (den Text schrieb Enrique Cadícamo).
1933 war D’Arienzo so berühmt, dass die Filmgesellschaft Argentina Sono Film ihn – neben anderen Orchestern - um die Mitwirkung in ihrem allerersten Film bat (den Film ¡Tango! von Luis Moglia Barth); und - ganz großartig für die damalige Zeit, als der Tonfilm noch in den Kinderschuhen steckte -, es gelang sogar, das Orchester live im Chantecler zu filmen. D’Arienzo, in der Szene an der Geige, spielte „Chirusa“, eine seiner eigenen Kompositionen.
D‘Arienzos Erfolg in den Nachtlokalen war so groß, dass die Plattenfirma Victor ihm 1935 einen Vertrag auf Lebenszeit anbot. D’Arienzo sollte einer derjenigen Musiker werden, die in Argentinien die meisten Platten unter dem Label Victor verkauften.
Im Jahr 1935 änderte die Geschichte des Tango ihren Kurs. Weil ihm die Unpünktlichkeit seines damaligen Pianisten Lidio Fasoli auf die Nerven ging, suchte D’Arienzo nach einem neuen Mann am Klavier und entschied sich schließlich für einen jungen Pianisten, der Stammgast im Chantecler war und hin und wieder Carlos Gardel musikalisch begleitete. Diese neue Kombination sollte dem Tango der dreißiger Jahre Feuer und Leidenschaft verleihen. Der Pianist Rodolfo Biagi, der aus dem Viertel San Telmo stammte und schon bald mit dem Spitznamen „Manos brujas“ (Zauberhände) bedacht wurde, verlieh dem Orchester einen typischen Stil: stakkato, dynamischer als gewohnt, sehr tanzbar, sogar für Anfänger, weil der Rhythmus einfach ansteckend war. Der schnellere Beat aus den Zeiten der heldenhaften Tangotrios, die zu Beginn des Jahrhunderts in den Bordellen aufgespielt hatten, erlaubte es dem Orchester, zum fast vergessenen Zwei-Viertel-Takt zurückzukehren. Der Tango hatte seine ursprüngliche Heiterkeit wiedergefunden. D’Arienzos Stil war weniger für Konzertsäle geeignet, dafür umso mehr für Tanzsäle. Die Instrumente spielten unisono, nur dem Pianisten war hin und wieder ein Solo erlaubt. Biagi spielte nicht nur im Chantecler mit D’Arienzo, sondern auch bei Radio El Mundo und in Nachtclubs, er begleitete das Orchester auf erfolgreichen Tourneen und wirkte in dem Film Melodías Porteñas von Enrique Santos Discépolo mit. Zwischen dem 31. Dezember 1935 und dem 22. Juni 1938 nahm das Orchester insgesamt 71 Stücke mit Biagi am Klavier auf, angefangen bei „Orillas del Plata“ bis hin zu „Champagne Tango“.
Drei oder vier Monate, nachdem D’Arienzo Biagi als Pianisten angeheuert hatte, änderte sich die Musik in den Tanzlokalen von Buenos Aires. Damals wurde vor allem Foxtrott und Swing getanzt. Aber D’Arienzos Orchester brachte den Tango zurück in die Füße der Tänzer und machte ihn wieder für die Jugend interessant. Aus dem „Rey del Compás“ wurde der König der Tanzsäle, und er verdiente eine Menge Geld. Was nicht die schlechteste Art ist, seine Brötchen zu verdienen.
Charakteristisch für D’Arienzo waren die Energie, die er in seinen Rhythmus legte, und seine temperamentvollen Pianisten wie Biagi, Juan Polito (1938-1940) und später Fulvio Salamanca (1940-1957), einer der besten Pianisten der Epoche.
D’Arienzo hat die Guardia Vieja praktisch gerettet. Wenn man damals in einem Plattenladen eine Scheibe von D’Arienzo kaufen wollte, musste man dazu noch drei andere Tango-Schallplatten nehmen, sonst bekam man sie nicht. Und wer das Orchester D’Arienzo für eine Veranstaltung buchen wollte, musste noch vier oder fünf andere Orchester zusätzlich buchen, sonst sagte D’Arienzo nicht zu.
1940 spielte das Orchester im Chantecler in zwei Schichten; bis Mitternacht spielten die Musiker ohne den Dirigenten, also ohne D’Arienzo, und am Piano saß Juancito Díaz, ein Vetter von Fulvio Salamanca. Um ein Uhr dann erschien der Maestro und dirigierte bis vier Uhr früh mit Fulvio am Piano.
Während das Orchester über die Jahre gewachsen und gereift war, hatte D’Arienzo sich immer auf die Unterstützung zweier Musiker verlassen können: auf den Bandoneonisten Héctor Varela, der sich um die Belange der Musiker kümmerte, und auf Fulvio Salamanca, der für die Sänger zuständig war.
Aber 1940 musste D’Arienzo sein Orchester ganz neu organisieren, denn sein Sänger Alberto Echagüe hatte sich von ihm getrennt und fast alle Musiker mitgenommen, darunter auch die Sänger Alberto Reynal und Carlos Casares. „Wir brauchen einen neuen Sänger“, sagte er zu Salamanca, wie dieser später berichtete, „mach dich an die Arbeit.“ Fulvio Salamanca, im Alter von 18 Jahren aus Santa Fe-Las Varillas in der Provinz Córdoba nach Buenos Aires gekommen, sah sich mit der enormen Aufgabe konfrontiert, für den großen D’Arienzo einen Sänger aufzutreiben. Er hörte sich hunderte Sänger an, die vor dem Gebäude von Radio El Mundo, wo das Vorsingen stattfand, Schlange standen.
Es kamen große Stars wie Roberto Ray und Chato Flores zum Vorsingen, und es heißt, dass sogar ein Fahrer der Straßenbahn Linie 5, die am Gebäude des Radiosenders vorbeifuhr, in Anzug und Krawatte ausstieg und sich in die Schlange einreihte. An einem späten Nachmittag stellte sich in Saal B der zwanzigjährige Tito Falivene vor und sang „La Mariposa“. Als er ihn hörte, rief Salamanca aus: „Das war’s! Das Vorsingen ist beendet!“ Der Sänger wurde sofort angeheuert und gab schon bald sein Debut im Chantecler, allerdings unter seinem Künstlernamen Héctor Mauré – „Héctor“ zu Ehren von Héctor Varela und „Mauré“, weil D’Arienzo, als nach einem Nachnamen gesucht wurde, zu ihm gesagt hatte: „Du bekommst den Namen meiner Frau, aber mit Akzent auf dem e!“ Und so wurde eine Legende des Tango geboren: Héctor Mauré. Selbst die kompliziertesten Stücke sang Mauré stets mit großer Leichtigkeit.
Es war der Beginn der época de oro, des goldenen Zeitalters des Tango, und Juan D’Arienzo hatte bereits jede Menge Tänzer mobilisiert. Laut Juancito Díaz waren die Tanzlokale so voll, dass die Musiker Polizeischutz brauchten, um auf die Bühne zu gelangen.
Buenos Aires war im Tangofieber, Juan D’Arienzo befand sich auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn, seine Musik war der Star der Nacht und brachte die Füße der Tänzer in Bewegung.
Dies ist das erste Kapitel der Geschichte des großen Meisters, denn es ist unmöglich, sie in einem einzigen Artikel aufzuschreiben. Im nächsten Kapitel werden wir uns der época de oro zuwenden, dem goldenen Zeitalter des Tango, den vierziger Jahren, in denen die Musik aus Buenos Aires ihre ganze Pracht entfaltet!
Juan D’Arienzo hat einmal gesagt:
So wie ich das sehe, ist der Tango vor allem Rhythmus, Energie, Mut und Charakter.
(Translated by Charlotte Breuer).