Haben Sie Lust, in diesen sehr herausfordernden Zeiten staunend in Wunder der Kunst zu versinken? Kunst jetzt? Ja: Jetzt erst recht! Nach dem amerikanischen Kunstphilosophen Denis Dutton hilft uns Kunst zu überleben, sie ist sogar für unser Wohlbefinden unabdingbar1.

Ich lade Sie ein zu einer Reise in Bildwerke, die bis in die feinste Struktur durch die Farben eines Mannes verzaubert wurden, der seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war und uns bis heute tief beeindruckt. Ende Februar 2020 hatte ich das große Glück, eine bemerkenswerte Ausstellung über den Jahrhundertkünstler Jan van Eyck im Museum voor Schone Kunsten Gent (MSK) zu sehen: Eine optische Revolution. Es ist die größte Jan van Eyck – Ausstellung, die es jemals gab. Diese Schau der Superlative sowie Gent als Stadt waren für mich der Rahmen einer beeindruckenden Zeitreise in das frühe 15. Jahrhundert. Mit der Landung im Spätmittelalter wurde ich bildlich hineingeschleudert in eine Epoche tiefer Umbrüche und großer Verunsicherung - aber auch glanzvoller Kunst. Hier stellte Jan van Eyck in der Malerei alles in den Schatten, was es bis dahin gab. Er wurde in mehrfacher Hinsicht revolutionär. Ein Blick auf seine Arbeiten und den Künstler als Mensch können unser Leben gerade heute in extrem aufreibenden Zeiten bereichern. Selbst wenn wir jetzt nicht in die Ausstellung dürfen: Werke van Eycks finden wir zu mindestens über das Internet in mittlerweile hoher Qualität2, von diversen Videos ganz zu schweigen.

Was hatte er vollbracht und was ist an seiner Kunst aktuell so faszinierend? Weshalb begeisterte mich die wegen der Corona-Krise zwischenzeitlich geschlossene Ausstellung?3

Über den um 1390 geborenen und bis 1441 lebenden Jan van Eyck ist bis heute nicht viel bekannt. Sicher ist, dass er zu den Künstlern gehörte, die bereits zu Lebzeiten berühmt wurden. Und dies nicht nur in Flandern, sondern europaweit bis in die damals wirtschaftlich und künstlerisch hoch entwickelten Zentren im Süden wie das italienische Florenz. Brügge und Gent, wo Jan van Eyck wirkte, waren ebenfalls weit fortgeschrittene und sehr wohlhabende Hotspots für den Handel und die Wirtschaft. Sie waren um 1500 europaweit exzellent vernetzt. Einen herausragenden Rahmen für seine Entwicklung fand der Künstler zudem insbesondere am Hofe des Herzogs von Burgund, Philipp dem Guten. Der Glanz dieses Hofes setzte unwiderstehliche Trends für viele Herrscher in Europa. Er wirkte als Turbo für die Entwicklung herausragender Künste wie Teppichweberei und Tafelmalerei. Die Städte Flanderns machten mit ihren Abgaben Philipp zu einen der reichsten Monarchen des Kontinents. Der holländische Kulturhistoriker Johan Huizinga spricht vielleicht zu Recht vom 15. Jahrhundert als dem „Jahrhundert Burgunds“4. Der Herzog von Burgund stellte Jan van Eyck 1426 ein, da war er bereits ein bekannter Künstler. Jetzt verfügte er über ungeahnte Möglichkeiten. Der Künstler entwickelte sich zum hoch angesehenen Hofmaler und Diplomaten seines Herren.

Die unwiderstehliche Ausstrahlung dieses burgundischen Jahrhunderts spürte ich intensiv bei meinen Streifzügen durch Gent. Ich konnte mich nicht satt sehen an den atemberaubenden Strukturen spätmittelalterlicher Kathedral- und Kirchenbauten. Gent zeigt mit seinen prächtigen Häuserfassaden zugleich das Selbstbewusstsein seiner Kaufleute. Noch fesselnder sind jedoch die Werke des Ausnahmekünstlers, vor denen ich zum Teil Zeit und Raum vergesse, was vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse an sich schon ungemein wertvoll ist.

Eines der weltberühmten Superlative christlicher Malerei stellt mit all seiner Komplexität der Genter Altar von Hubert und Jan van Eyck dar. Hubert war der ältere der beiden Künstler-Brüder, über den noch weniger bekannt ist5. Der Altar zeigt eine biblische Enzyklopädie, ein Universum voller Details und Geschichten – Spiritualität für die Ewigkeit und ein kraftvolles Symbol europäischer Kulturgeschichte. Dieses Gesamtwerk wurde in den letzten Jahren intensiven Restaurierungsarbeiten unterworfen. Dabei kam es zu spektakulären Entdeckungen, die durch frühere Restaurierungen bzw. Übermalungen jahrhundertelang verborgen blieben6.

Die Innenansicht dieses einzigartigen Altars befindet sich in der Genter St.-Bavo-Kathedrale. Das zentrale Bild stellt die Anbetung des Lammes Gottes dar. Das Lamm, aus dessen Körper sich in einem dicken Strahl Blut in einen goldenen Kelch ergießt, symbolisiert Jesus Christus. Nach den Restaurierungen und dem Abtragen diverser Übermalungen trat ein vollkommen neues, eher menschliches Antlitz hervor. Für die Fachwelt war es eine Sensation und das Lamm ging sogar in sozialen Medien weltweit „viral“. Allein die Innenseite dieses Altars in der Kathedrale auf sich wirken zu lassen, kann Sie mit allen Sinnen erfassen.

Von 2012 - 2016 wurden in den Räumen des MSK die acht Tafeln der Außenseite des Genter Altars umfassend restauriert. Zum ersten und letzten Mal sind diese Teile zusammen mit den noch nicht restaurierten Innen-Tafeln des Adam und der Eva in der aktuellen Ausstellung vereint. Die Tafeln hängen über mehrere Räume auf Augenhöhe verteilt. Die Außenflügel des Genter Altars und die anderen Meisterwerke van Eycks bilden den roten Faden durch die sehr beeindruckende Ausstellung, die rund um Themen wie z.B. „Sünde und Erlösung“, „Mutter und Kind“, „Das Wort Gottes“, „Die Madonna in der Kirche“, „Die gemalte Skulptur“ oder „Das göttliche Porträt“ überzeugend kuratiert ist7. Und neben Jan van Eyck gibt es Meisterwerke zahlreicher weiterer Zeitgenossen, wie z.B. der bekannten Italiener. Die große Vielfalt der Schau wird untermauert durch verschiedene Kunstgattungen: Zu sehen sind neben Gemälden auch Miniaturen, Skulpturen und Zeichnungen.

Die Reise nach Gent hat sich allein wegen Adam und Eva gelohnt, die für damalige Verhältnisse unheimlich mutig, weil menschlich wie aus „Fleisch und Blut“ dargestellt wurden. Einfach - fast nackt - in einer Selbstverständlichkeit, die noch Jahrhunderte später wiederholt zu extremen Irritationen bis hin zu Verhüllungen führen sollte. Und der Adam wirkt auf mich noch lebendiger als Eva. Die Hautfarbe von Gesicht und Händen schaut leicht sonnengebräunt aus und ist dunkler als der Rest. Im kleiderlosen Zustand des Paradieses eigentlich undenkbar. Mit dem rechten Fuß, der unterhalb beinahe solche Schmutzspuren wie 170 Jahre später bei Figuren Caravaggio's aufweist, möchte Adam dynamisch den Bildrahmen schon wieder verlassen, als hätte er schon lange genug Modell gestanden. Nun, es ist sicher eher die Folge der Vertreibung aus dem Paradies nach dem Sündenfall. Jedenfalls ein Typ aus dem Leben.Und das um 1430 in einem sakralen Raum, der bisher überwiegend von idealisierten Heiligenbildnissen dominiert wurde. Jan van Eyck vermenschlicht damit kirchliche Kunst in einer bis dahin unvorstellbaren Art und Weise.

Es gibt wahrscheinlich nur wenige in der Geschichte der Kunst, die figurativ in dieser sensiblen Feinheit unterwegs waren wie der Meister. Schon gar nicht vor 600 Jahren. Allein die Porträts dieses Künstlers, welche die Ausstellung in beeindruckender Weise in einem Raum konzentriert, bringen uns die Dargestellten so nahe, dass wir beinahe die Bewegungsgeräusche ihrer Gewänder hören oder ihren Atem spüren. Jan van Eyck malt auf revolutionäre Art Charaktere, deren Präsenz wir intensiver als bei einem Foto wahrnehmen. Der Künstler konfrontiert uns mit menschlichen Persönlichkeiten, deren Ausstrahlung uns aus dem Bild heraus unmittelbar berührt, mit denen wir in einen Dialog treten können. Die Dargestellten selbst überraschen: Es sind nicht mehr vorwiegend Herrschende, sondern Menschen einer wohlhabenden und weiter aufstrebenden Mittelschicht. Es sind Menschen mit einem neuen Selbstverständnis, wie sie typisch waren für die hochentwickelten Wirtschaftszentren Burgunds und Italiens. Ich stand lange vor dem Porträt des berühmten Brügger Goldschmieds Jan de Leeuw. Dieser Mittdreißiger fixiert den Bildbetrachter mit festem Blick. Seine elegante Kleidung und der präsentierte Ring mit Juwel umrahmen die Präsenz eines Vertreters der Handwerkerelite.

Die strukturelle Feinheit geht bei Jan van Eyck einher mit einer bis dahin völlig unbekannten Brillanz der eingesetzten Farben. Der Künstler befasste sich intensiv mit der Optimierung der bis dahin noch nicht verbreiteten Technik der Ölmalerei. Die innovative Beherrschung dieser neuen Technik, die van Eyck die subtilsten Licht- und Farbabstufungen ermöglichte, wurde wesentlich für seine Meisterschaft8. Damit eröffnete er nicht nur völlig neue Bildthemen und Darstellungsformen, sondern machte sich mutig und versiert eine noch junge Technik nützlich.

Aber zur optischen Revolution des Jan van Eyck gehört noch vielmehr: Er muss ein unglaublich aufmerksamer Beobachter seiner Umgebung gewesen sein, vermutlich beherrschte er neben einer ausgeprägten Intuition als hochgebildeter Mann am Hofe Phillips auch die Grundlagen optischer Lehren seiner Zeit. Die Anwendung der Perspektive in seinen Bildwerken, insbesondere derer mit biblischem Hintergrund stellt einen Durchbruch dar, mit der sich der Künstler de facto schon in die kommende Renaissance katapultiert. Während ich bei den bisher bekannten Italienern dieser Zeit eine neue, aber an der Schwelle zur Frührenaissance noch stark geometrische Form der Perspektive wahrnehme, lädt van Eyck bereits vor 600 Jahren mit einer intuitiven, beinahe magischen Perspektive zu einer Reise in die Tiefe seiner Bildwerke ein.

Nicht mehr losgelassen hat mich seine Verkündigung aus der National Gallery in Washington D.C. (1430-35). Eine unglaubliche Präzision der Gewänder, eine zuvor nie dagewesene Brillanz von Farbnuancen, Grazie und Anmut sowohl des verkündenden Erzengels Gabriel als auch der empfangenden Maria sind eingebettet in eine sakrale Raumtiefe, die Generationen von Künstlern beeindruckt hat. Diese Bildwerke laden ein zum Staunen, zum Innehalten, zu Demut vor der Schöpfung – und zum Genuss. Was gibt es Schöneres in einer Zeit, in der sich furchterregende „Breaking News“ einander im Sekundentakt ablösen? Auch wenn nicht jeder von uns ein tieferes Verständnis christlicher Symbolik mit sich bringt, können van Eycks Bilder auch ohne umfassende Vorkenntnisse berühren.

Jedes kleinste Detail bei der Verkündigung ist wie ein einziges Kunstwerk ausgestaltet und doch sowohl gestalterisch als auch sinngemäß in etwas Größeres eingeordnet. Allein der Fliesenboden enthält diverse alttestamentarische Szenen, gerahmt von Tierkreiszeichen. Das atemberaubende Gesamtwerk wird der Komplexität und der Bedeutung des spirituellen Geschehens gerecht: Van Eyck wusste um die grundlegende Bedeutung der Verkündigung im Lukasevangelium, die „den Beginn der Fleischwerdung Christi anzeigt, dessen Opfertod und Auferstehung die Erlösung der Menschheit verheißt“9. Seine Verkündigung ist wie der Eindruck von etwas Größerem, welches ich nicht mehr in Worten beschreiben kann.

Die Werke Jan van Eycks können ein Geschenk für Ihre Sinne sein, sei es aufgrund der Feinheit seiner Darstellungen, der Brillanz der Farben oder der faszinierenden Ausstrahlung seiner komplexen Bilderwelten. Das Verweilen vor seinen Malereien lädt ein zur Kontemplation, auch ohne jedes mögliche Symbol hinterfragen zu müssen. Van Eyck wirkt. In einer digitalen Überschallgesellschaft und gerade im aktuell besorgniserregenden Corona-Umfeld lohnen sich solche Momente der Kunstbetrachtung, um etwas herunterzukommen und vielleicht den einen oder anderen Schritt aus einem dramatisierenden Hamsterrad herauszutreten. Die Figuren seiner Darstellungen wirken manchmal – wie zum Beispiel in seinen Madonnenbildnissen – so fein, dass wir sie als fragil wahrnehmen. Ist diese Sensibilisierung für Fragilität nicht auch ein Wert in einer Welt, in der viele bis vor kurzem noch selbstbewusst, manchmal arrogant annahmen, jedes Problem früher oder später technisch bzw. mit einem Algorithmus lösen zu können. Zeigt uns gerade Corona nicht unsere Verletzlichkeit? Wann sind wir endlich bereit, die Fragilität des größten Werkes überhaupt, der Natur, ohne die wir überhaupt nicht leben können, zu respektieren? Hier droht eine unvergleichlich größere und komplexere Krise als die jetzige!

Der Blick auf Menschen wie Jan van Eyck, der in mindestens so herausfordernden Zeiten wie heute wirkte, kann Mut machen. Sowohl künstlerisch als auch technisch war van Eyck bereit, völlig neue Wege zu beschreiten. Inhaltlich rückt er selbst im sakralen Raum den Menschen und unser Menschsein in den Mittelpunkt seiner Meisterwerke. Durch eine phänomenale Lebendigkeit und beeindruckende perspektivische Darstellungen scheinen van Eycks Persönlichkeiten oft sogar die Begrenzungen von Leinwand und Bilderrahmen zu überwinden und direkt mit uns zu kommunizieren. Weiter konnte die Tür zur Neuzeit nicht aufgestoßen werden. Ein phänomenaler Durchbruch.

Ich lade Sie ein, beim Betrachten seiner Kunst vielleicht zu überlegen, was der Mut und die Innovationskraft von Jan van Eyck für Ihr Leben bedeuten könnten? Gerade in unseren Zeiten herausfordernder Veränderungen ist an vielen Stellen Mut zu neuen Wegen gefragt, oft sogar notwendig. Welche – vielleicht auch kleine - Tür zu einem neuen Weg sind Sie bereit aufzustoßen? Er muss ja nicht gleich zu einer Revolution in der Kunst führen.

Fußnoten

1 Zitiert von Nobelpreisträger Eric Kandel aus seinem Werk Das Zeitalter der Erkenntnis – Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn in der Wiener Moderne bis heute, Erste Auflage, Pantheon-Ausgabe, September 2014, S. 512.
2 Closer to Van Eick. Rediscovering to Ghent Altarpiece.
3 Die Ausstellung ist bis 30.4.2020 aufgrund der Corona-Krise geschlossen.Einblicke in die Schau sind unter ff. Link zu finden.
4 Jan Dumolyn und Frederik Buylaert, „Van Eycks Welt“, in: Van Eyck – Eine optische Revolution, Museum voor Schone Kunsten Gent, Katalog zur Ausstellung, 1.2.2020 – 30.4.2020, S. 105.
5 Er wurde 1366 geboren und starb 1426. Ein Vierzeiler am unteren Rahmen des Altars lässt darauf schließen, dass Hubert die Arbeit begann, die Jan bis 1432 beendete. Jan Dumolyn und Frederik Buylaert, „Van Eycks Welt“, in: Van Eyck – Eine optische Revolution, Museum voor Schone Kunsten Gent, Katalog zur Ausstellung, 1.2.2020 – 30.4.2020, S. 60.
6 Hélène Dubois, „Entscheidende materielle und optische Veränderungen des Genter Altars“, in: Van Eyck – Eine optische Revolution, Museum voor Schone Kunsten Gent, Katalog zur Ausstellung, 1.2.2020 – 30.4.2020, S. 237.
7 Van Eyck 2020.
8 Maximiliaan Martens, „Jan van Eycks optische Revolution“, in: Van Eyck – Eine optische Revolution, Museum voor Schone Kunsten Gent, Katalog zur Ausstellung, 1.2.2020 – 30.4.2020, S. 171.
9 Maximiliaan Martens, Jan Dumolyn, Till-Holger Borchert „Einleitung“, in: Van Eyck – Eine optische Revolution, Museum voor Schone Kunsten Gent, Katalog zur Ausstellung, 1.2.2020 – 30.4.2020, S. 24.