Vor 100 Jahren starben bahnbrechende Protagonisten der Wiener Avantgarde wie Gustav Klimt und Egon Schiele. Das Ehepaar Rudolf und Elisabeth Leopold hat systematisch die weltweit größte Egon Schiele-Sammlung aufgebaut. Die Sammlung bildet mit zahlreichen Werken weiterer herausragender Künstler wie z.B. Gustav Klimt und Kolo Moser auf einmalige Art die gesamte schillernde Epoche des „Fin de Siècle“ ab. Sowohl diese Kunst von Weltrang, als auch die einschneidenden wissenschaftlichen Erkenntnisse der Zeit zeugen von einer Kreativität, deren Wert für unser humanistisches Erbe an der Schwelle zum Digitalzeitalter nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Dr. Mario Bogisch hatte die Gelegenheit, ein außergewöhnliches und berührendes Gespräch mit Frau Dr. Elisabeth Leopold in Wien zu führen:

Was fasziniert Sie grundsätzlich an Kunst?

Ein gutes Kunstwerk sollte nicht nur eine interessante Darstellung zeigen, sondern darüber hinaus den Betrachter berühren und begeistern. Und es sollte nicht nur mit dem Auge und dem Intellekt erfasst werden, sondern auch eine besondere Art der Ausstrahlung haben, die ohne viel Nachdenken berührt und hinreißt. Es ist die Seele des Künstlers, die innere Kraft der unverfälschten Aussage.

„Es ist die Seele des Künstlers, die innere Kraft der unverfälschten Aussage.“

Wenn ein Empfänger offen ist und erkennen will, dann schwingt es sozusagen aus dem Bild heraus zum Empfänger. Diese Schwingungen sind unbeschreiblich, geheimnisvoll und wirken auf das Unterbewusstsein. Das gibt es auch zwischen den Menschen.

Das fasziniert mich und hat auch meinen Mann immer bei der Kunstbetrachtung fasziniert. Als er Schiele entdeckte, sagt er: Das ist ein Künstler, dessen Linien- und Ausdruckskunst so groß ist, wie bei manchen der Alten Meister. Aber die Alten Meister malen natürlich überwiegend Könige, Prinzessinnen und viele andere auserwählte Herrschaften. Schiele malt unsere Probleme, unsere Wünsche und unsere Ängste, ja unsere innersten Gefühle.

Weshalb berührt Sie das Werk Egon Schieles besonders?

Er nimmt sich der Sache des Menschen an. Betrachten Sie das Gemälde „Eremiten“. Zwei Männer als Doppelfigur in einem schwarzen Mantel gehüllt, in leicht geneigter Stellung auf einer schiefen Ebene vor einem grauen Himmel. Schiele schreibt darüber in einem Brief: “Es sind Empfindungsmenschen, einsam in einer fremden Welt. Ich habe das Bild so malen müssen, es ist aus Innigkeit entstanden.“

„Schiele nimmt sich der Sache des Menschen an.“

Was berührt den Menschen, was treibt ihn an? Dazu gehören unsere Nöte, unsere Gefühle, Melancholie, Krankheit und auch der Tod. Und natürlich die sexuelle Anziehung. Schauen Sie sich das Bild „Kardinal und Nonne“ an. Diese Liebe, die verboten ist, sich aber nicht verbieten lässt. Die natürliche Anziehung der Geschlechter, die wir hier großartig dargestellt haben. Wir sehen ein Ur-Gefühl, dass diese beiden Menschen zusammen gehören. Ich glaube, dass das eine der schönsten Dinge des Lebens ist, diese seelische Kraft. Das ist so etwas Wunderbares! Der Mensch kommt nicht nur auf die Erde, um zu leben. Ich glaube, dass er vor allem auf die Erde kommt, um zu lieben!

„Der Mensch kommt auf die Erde, um zu lieben!“

Die Wissenschaft heute hat so viele Erfindungen gemacht, man kann z.B. die Gene austauschen. Wie jedoch Leben entsteht, bleibt ein Geheimnis. So gibt es noch viele andere geheimnisvolle Dinge, wie z.B. die Wirkung eines Menschen auf einen anderen und auch der Eindruck eines Gemäldes.

„Die Wirkung eines Bildes ist ein Geheimnis.“

Die Künstler der Wiener Moderne, wie Klimt, Schiele und Kokoschka gestatten uns tiefe Einblicke in ihr Seelenleben. Wie sehr interessieren Sie mögliche Einflüsse der Wissenschaften auf die Kunst?

Da gibt es natürlich einen großen Seelenarzt, den Sigmund Freud. Ich empfehle „Die Traumdeutung“, wo jedes Wort gut zu verstehen ist. „Die Traumdeutung“ hat wesentlich auf die Expressionisten gewirkt. Hier geht es um das Unterbewusstsein, wobei es sogar schon Künstler zuvor gegeben hat, die das empfunden haben wie Francisco Goya.

Welches könnten die wichtigsten Botschaften der Kunst der Wiener Moderne und Egon Schieles im Besonderen für die Nachwelt im 21. Jahrhundert sein?

Beim Schiele die Frage „auch Du?“. Was heißt das? Der Betrachter sieht ein Bild und hat ein Gefühl. Und dann denkt er: Auch Du hast das Gefühl, ich hab’s ja auch. Also nehmen wir z.B. sexuelle Nöte: „auch Du“? Mit dem „auch Du?“ ist zugleich gemeint, dass Schiele in die Tiefe geht, eben auch in das Unterbewusstsein. „Auch Du“: Das ist der Moment, in dem der Betrachter plötzlich seine Gefühle in dem Bild wieder findet. Schiele zeigt uns etwas, an dem wir auch leiden.

Gustav Klimt hat mit seiner großen Malerei die Epoche geprägt. Nach seiner Enttäuschung mit den Fakultätsbildern nach sieben Jahren malte er für private Aufträge Frauen mit Erotik, Schönheit und Ornament. Das Ornament trägt er auch in die Landschaft hinein.

„Schiele malt den Menschen von innen, Klimt eher von außen.“

Gibt es ein Werk Schieles, welches Ihnen besonders ans Herz gewachsen ist? Wie geht es Ihnen, wenn Sie vor dem Werk stehen?

Da bin ich immer in Verlegenheit. Natürlich gibt es eine Menge Bilder, die mich beeindrucken. Wenn ein Kunstwerk einen besonders beeindruckt, wie z.B. „Häuser am Meer“, dann wirkt es tagelang. Diese Häuser stehen da wie am Ende der Welt, fast wie alte Leute. Dahinter ist ein Niemandsland, da kommt nichts mehr. Diese Einsamkeit kann man schon manchmal empfinden, diese Verlassenheit: Jetzt stehe ich hier. D.h. auch ein bisschen wie bei der „Entschwebung“ am Ende zu sein. Und vielleicht auch die unfassbare Neugier, wie es ist, wenn man stirbt?

Na, und da ist natürlich der „Winterbaum“. Dieser Baum hat einen gekalkten Stamm. Das hat dem Schiele sehr gepasst, dadurch kam die Krone ins Schweben. Und über diesen Baum peitscht der Wind drüber. Da erinnere ich mich an Hölderlin: „...doch es kehret umsonst nicht unser Bogen, woher er kommt.“ Das ist der Lebenslauf. Man klettert hinauf und wird langsam wieder zurückgeführt. Und jedes Ästchen an diesem Baum hat eine Beziehung zum Himmel. Das Astwerk ist nicht zufällig dort hereingebracht. Es hat alles einen kompositorischen Grund. Und dann sehen Sie im Himmel Schneelichter. Und ein einzelnes welkes Blatt ist zu erkennen. Schiele malt hier einen Vorwinterbaum. Es ist eine fast winterliche Atmosphäre und Schiele sagt, er möchte einen Herbstbaum im Frühling malen. Welche Wehmut! Auf der Kehrseite steht geschrieben, „mein Wandelweg geht über Abgründe“.

Und wenn ich vor dem „Winterbaum“ stehe, empfinde ich, der Wandelweg geht über Abgründe.

Egon Schiele bringt einen „radikalen Eros“ auf die Leinwand. Es gab in Deutschland und Großbritannien sogar bis in die Gegenwart Probleme mit Ausstellungs-Plakat-Werbung für Schiele in Wien 2018. Was sagen Sie dazu?

Als Schiele vierzehn ist, stirbt der Vater. Das ist ein schweres Trauma. Das Kind ist sehr beeindruckt von der Eleganz und der Großtuerei des Vaters als Stationsvorsteher in Tulln. Schiele thematisiert immer wieder die Eisenbahn und sieht, wie sein Vater die Hand hebt und die Eisenbahn abfahren lässt. Und dieser geliebte Vater stirbt - zumal an cerebraler Paralyse durch eine Geschlechtskrankheit. Eric Kandel schrieb, „der Vater stirbt gerade in dem Moment, wo Schieles Sexualität erwacht“.1 Das Kind Schiele wird ruhelos, die Erotik wird zum gefährlichen Traum, es bleibt ein geistiges Sehnen. Der Künstler stellt Erotisches auf Blättern dar, nur selten auf einem Gemälde.

Zu den Plakaten kann ich nur ergänzen, es gibt natürlich erotische Blätter, die man nicht unbedingt für Plakate wählen muss. Nicht umsonst heißt das weibliche Genital die Scham.

Auf berührende, tief gehende Art und Weise thematisiert Schiele wiederholt und heftiger als sein Mentor Klimt den Aspekt des Todes. Wie stellen Sie sich den Menschen Egon Schiele im Alltag vor?

Im Grund wissen wir nicht genau, wie Schiele wirklich war. Dass er den Tod immer wieder thematisiert, mag mit dem Schicksal des Vaters zusammenhängen. Er weiß sicher, dass der Tod endgültig ist.

Andererseits gibt es dieses wunderbare Bild der „Entschwebung“. Zwei Menschen schweben von einer „Weltwiese“ nach oben. Das ist der Moment des Todes. Ich habe dieses Bild wiederholt zu Michelangelo in der Sixtina in Beziehung gesetzt. Genau in der Mitte der Deckenmalerei der Sixtina finden Sie die „Erweckung des Adams“. Für mich ist Religion immer wieder wie ein Sinnbild. Es ist daher nicht die Erweckung des Adams, sondern die Entstehung des Lebens, das stellt Michelangelo mit den zwei Fingern dar. Und dazu finde ich jetzt den Moment des Todes von Schiele. Wenn Sie sich das Gesicht des unteren Mannes auf der „Entschwebung“ anschauen, dann ist das voll Angst, aber auch voll Neugier. Er will doch wissen, was passiert jetzt. Wir alle wollen es wissen. Das heißt, er malt nicht wie der Klimt ein Knochengesicht: Er malt sich selber sterbend. Und was passiert jetzt? Das ist eine fantastische Parallele zu diesen zwei Fingern der Schöpfung. Und dann kommt Schiele und fragt, der Moment des Todes, wo komme ich hin?

„Der Moment des Todes: Wo komme ich hin?“

Schiele war als Expressionist Ausdruckskünstler, der gerne übertrieb in Gesten und Posen – in dem Sinne eine Art Theatermacher.

„Schiele war vermutlich eine Art Theatermacher.“

Wir haben von Personen, die Schiele gut gekannt haben schriftliche Berichte, z.B. vom treuen, verständnisvollen Sammler Heinrich Benesch ein kleines Buch: „Mein Weg mit Egon Schiele“ (Die Benesch Sammlung ist jetzt in der Albertina).

Und Arthur Roessler hat über Schiele viele Dinge übertrieben. Vieles glaube ich ihm dennoch. Er sagt, dass der Schiele eher ruhig und zurückhaltend war. Aber auch sehr verspielt: Als er nach seinem Gefängnisaufenthalt eingeladen war beim Roessler hat er in einer großen Kiste seine Eisenbahn mitgebracht und damit bei ihm gespielt. Und er pfeift auch passend zu den abfahrenden Zügen. Das war die Erinnerung an Tulln.

Schiele war demnach eher ein ernster und zurückhaltender Mensch. Zugleich hatte er aber auch etwas, was der Mozart hatte, diesen Mutterwitz.

Schiele hatte über Jahre eine enge und sehr besondere Beziehung zu Wally Neuziel. Dennoch hat er sich von ihr getrennt. War dieser Schritt für Sie jemals nachvollziehbar?

Schauen Sie, der Schiele ist 21 und die Wally 17. Es treffen sich faktisch zwei Kinder. Und die leben jetzt jahrelang miteinander. Von großer Liebe ist nirgendwo die Rede. Sie müssen jedoch unheimlich gut miteinander umgegangen sein. Die Wally war eine seiner wichtigsten Inspirationen. In gut zwei Jahren fertigt er über 90 Zeichnungen und Aquarelle sowie mehrere Ölbilder an, für die Wally Modell stand. Wally ist zugleich sicher Geliebte, Hausfrau und Finanzminister gewesen. Mein Sohn Diethard hat es gut beschrieben, sie wachsen aneinander.

Und solange die Wally beim Egon ist, spricht aus den Bildern noch dieses Feuer, dieses Brennen. Schieles Stil ändert sich von der Wally zur Edith radikal. Plötzlich wird alles rund und weich.

„Solange die Wally beim Egon ist, spricht aus seinen Bildern noch dieses Feuer.“

Und was den Schiele betrifft und die Edith: Der sehr junge Schiele hat die Edith gesehen und die geht mit Pelz und Hund, spricht Englisch und Französisch. Da hat er sich verführen lassen. Weil er glaubt, und das hat er ja auch im Brief geschrieben:„...ich heirate etwas Besseres.“ Das ist aus heutiger Sicht zu verurteilen. Vielleicht war es der Wunsch, in eine bessere soziale Schicht aufzusteigen. Denn: Sein Modell zu heiraten, dass kommt eigentlich nur in der Oper vor.

Ich bin zudem Biologin und weiß, Männer sind letztlich von Natur aus polygam. Ich glaube, das ist nicht so sehr zu verurteilen. Und das Gemälde „Der Tod und das Mädchen“ (Besitz Belvedere) ist eine Erinnerung an die schmerzliche Trennung von Wally. Man sieht ganz deutlich: Sie umarmen sich und es ist ein letztes Umarmen! Mit der Edith hingegen gibt es eigentlich kein so gemeinsames Bild.

„Ich weiß, Männer sind letztlich von Natur aus polygam.“

Gibt es ein oder mehrere Werke von Schiele und den anderen Künstlern der Wiener Moderne, die Sie für Ihr Haus unbedingt noch erwerben möchten?

Ich hätte gerne vom späteren Klimt die „Freundinnen“ gehabt. Leider sind sie und weitere großartige Werke durch Kriegswirren im Schloss Immendorf verbrannt. Und natürlich „Der Tod und das Mädchen“, welches jedoch das Belvedere sicher behält.

Ist durch Ihr Haus ein größeres internationales Vorhaben - z.B. gemeinsam mit einem Museum in Deutschland - geplant, um die Kunst der Wiener Moderne und Egon Schieles in Europa noch bekannter zu machen?

Es gibt vom 14.10.2018 – 6.1.2019 eine Schiele-Ausstellung in Schweinfurt im Austausch. Aus unserem Haus sind über 40 Kunstwerke zu sehen sein. Z.B. leihen wir Werke wie „Selbstseher“, „Tote Mutter“ oder „Winterbaum“. In der Vergangenheit gab es schon diverse Ausstellungen in Deutschland und international.

Wir sind in New York übrigens weitaus besser bekannt, als in Deutschland. Gab es einen deutschen Autor, der in der Vergangenheit über die Wiener Moderne geschrieben hat? Nein.

„Wir sind in New York weitaus besser bekannt, als in Deutschland.“

Und die Amerikaner sagen mir, im Leopold-Museum2 sehe ich etwas, dass ich nirgendwo sehe. Mit der Sammlung Leopold wird auf einzigartige Weise eine große kulturelle Epoche abgebildet, die 1918 endet.

Abgesehen von der Kunst der Wiener Moderne: Gibt es weitere Kunstepochen bzw. einzelne Künstler, die Sie besonders beeindrucken?

Natürlich. Die Alten Meister habe ich schon erwähnt. Selbstverständlich auch ein guter Picasso und Cézanne. Es gibt ein großes Gemälde von Picasso, dass ich besonders liebe, das ist „Der Junge mit Pferd“ im MoMa. Ein schönes großes tänzelndes Pferd wird von einem kleinen Jungen geführt, das Kind strahlt natürliches Selbstbewusstsein und Wichtigkeit aus.

Die Liebe meines Mannes und meine waren oft nicht der große „Mainstream“. Wir haben uns vor allem für das interessiert, was nicht so gefällig ist, sondern eher „daneben“. Bei Schiele sagten die Leute „der Sammler spinnt“, „der Klimt ist uns lieber“. Wir haben den Schiele geliebt oder den Toulouse-Lautrec sowie Kubin und Lovis Corinth.

Welche Sonder-Ausstellungen hätten Sie gerne künftig im Leopold Museum?

Sehr gerne James Ensor. Und Max Beckmann fällt mir ein. Da nicht alles, aber einige Sachen schon. Und natürlich Lovis Corinth, gerade wegen seiner wilden Malerei. Und als österreichischen Maler finde ich Rudolf Wacker herausragend.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft Ihres beeindruckenden Hauses am Meisten?

Ich wünsche mir vor allem, dass Egon Schiele unsterblich wird.

Gibt es etwas, was Sie uns über die gestellten Fragen hinaus gerne im großen Gedenkjahr 2018 zu dieser herausragenden Sammlung mitteilen möchten?

Die Sammlung Leopold ist bewusst in eine Kunst hinein gegangen, die schwierig und geheimnisvoll ist, die Fragen stellt. Das sind Werke von Egon Schiele, Oskar Kokoschka, von Gustav Klimt „Tod und Leben“ und einiges von Edvard Munch und James Ensor. Das ist gegensätzlich zu schön und elegant. Hier wird der Besucher zum Nachdenken aufgefordert. Diese Kunst kann uns sehr berühren und bereichern.

„Die Sammlung Leopold kann Sie sehr berühren und bereichern!“

Herzlichen Dank, liebe Frau Dr. Leopold, für dieses außergewöhnliche Interview!

Fußnoten

1 Eric Kandel, Das Zeitalter der Erkenntnis, Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute, deutschsprachige Ausgabe, München 2014, S. 200.

2 Aktuell geht es im Leopold Museum ab 6.12.2018 u.a. weiter mit Egon Schiele: Die Jubiläumsschau. Reloaded.