«Keine Höhle, aber schöne Aussicht» — Die mediale Kommunikation über einem der einst wichtigsten mythologischen Orte auf der maltesischen Insel Gozo, die Höhle der Kalypso, zeugt von Enttäuschung. Seit 2012 ist die Höhle, in der laut Legende die Nymphe Kalypso Odysseus sieben Jahre lang als «Liebesgefangenen» hielt, wegen Einsturzgefahr geschlossen; heute dient daher eine zweite Höhle in unmittelbarerer Nähe als Ort der Sehnsucht auf den Social-Media-Kanälen. Auf Instagram ist unter #calypsocave schon längst nicht mehr nur der Ursprungsort gemeint. Das mag an die kulturhistorisch berühmten Höhlen im französischen Lascaux erinnern. Heute firmiert unter dem Namen Lascaux IV bereits die vierte perfekte Reproduktion der seit den 1980er-Jahren geschlossenen Originalhöhle. Auch hier finden sich in den Social Media mehrheitlich Kommentare, die Reproduktion sei ohnehin eindrücklicher als das Original. Das Internet ermöglicht zu Orten wie jenen digitale Touren, wodurch das körperliche Präsenzsein nicht mehr unabdingbar ist. Und überhaupt scheint oftmals eine Enttäuschung einzusetzen in jenem Moment, in welchem man dem digital millionenfach bereisten, kommentierten, fotografisch veränderten Ort, der Landschaft, Stadt, Ausstellung oder auch Person dann tatsächlich gegenübersteht. Ist die im Netz verbreitete Welt inzwischen verführerischer als das Original?
Hier setzt Stefan Karrer an. In seinem Parcours durch die — nunmehr physisch erfahrbare — raumgreifende und die BesucherInnen einnehmende Video- und Soundinstallation im Kunsthaus Baselland ist es einerseits eine von ihm erstellte Website, die unter #calypsocave als Loop eine im Netz gefundene Auswahl von Fotos und Bildunterschriften zeigt. Bilder, Kommentare, aber auch variierende Kurzbeschriebe zum Mythos der Höhle der Kalypso — die schon lange nicht mehr nur den Ursprungsort meinen. Die Installation zeigt daher, so Karrer, den möglicherweise stattfindenden Transfer des mythologischen Orts auf die andere Seite der Bucht aufgrund dieser Instagramability — ein Zurechtrücken der Wirklichkeit zugunsten ihres digitalen Abbilds im sozialen Netzwerk. 2019 übrigens entstanden auf Veranlassung der Inselbehörde 3D-Scans der «originalen» Kalypso-Höhle für eine geologische Untersuchungen erstellt, um diese zu renovieren und erneut zugänglich zu machen. Bislang entsprachen die Resultate jedoch nicht den Erwartungen. Hat man sich bereits an andere Bilder gewöhnt?
Einen Schritt weiter im Raum begegnen wir !Ping — einem digitalen Assistenten, der sich noch in der Entwicklungsphase befindet. Ein Unbekannter scheint er nicht. Hatte doch bereits Microsoft Word sich einen vergleichbaren Assistenten ausgedacht, der uns als eine Art Cartoon-Büroklammer mit Augen beim Arbeiten am PC stets tapfer für Fragen bereitstand. Die von Karrer in den Räumen präsentierte Website zeigt nun den digitalen Begleiter im Zustand der Entwicklung. Was im ersten Moment drollig, helfend und unterstützend anmuten mag, sollte – denkt man dieses «Produkt» zu Ende — eher in Unruhe versetzen: !Ping kann aus den Dateien, die im Suchfeld geladen sind, oder auch aus Spracheingaben einen eigenen Sinn erzeugen. Dies setzt nicht zuletzt voraus, dass !Ping nonstop zuhört, online ist und mit Systemen und Algorithmen verbunden ist. Erst nach eigener längerer Untätigkeit am Computer verfällt !Ping in eine Art Schlafzustand, in dem er, so Karrer, wohl von Dateien, Passwörtern und Internetadressen aus seiner Vergangenheit träume. In diesen «Träumen» ist sein Mund nicht mehr an den Amazon-Pfeil gebunden.
Wie sich ein Hilfsmittel zu einem Hauptakteur entwickeln kann, zeigt Karrer mit VS, einer Soundinstallation, die aus zwei der international meist verkauften Synthesizern Yamaha DX7 und Korg M1 besteht. Ihre vorgefertigten Factory Presets wurden in den 1980er- und 1990er-Jahren in zahlreichen Popsongs, Soundtracks und Werbungen verwendet. Man könnte daher von einer Art kollektivem auditivem Gedächtnis sprechen, in dem eben jene beiden Module Teil unserer Zeit sind. Auch ihre Klänge sind dadurch selbst berühmt geworden — zugleich aber durch ihre Abnutzung zu Klischees ihrer selbst verkommen.
Im dritten Raum seines Parcours geht Karrer wieder zurück auf das anfängliche Thema und präsentiert eine Arbeit, die zugleich den Titel der Ausstellung gibt: oO. So sinnlich-poetisch auf den ersten Moment Bild, Sound und Textzeilen anmuten, so nüchtern-technisch ist der Hintergrund. oO reflektiert den in Internetplattformen diskutierten und analysierten Begriff japanischen Ursprungs «Bokeh», der den unscharfen Bereich in der Fotografie beschreibt. Eine synthetische Sprecherstimme referiert Blog- und Forumseinträge von Mike Johnson, der 1997 als Herausgeber des Photo Technique Magazine für die Einführung dieses japanischen Begriffs in die englische Sprache verantwortlich war. Johnson war es auch, der den Buchstaben h ans Ende des Begriffs setzte, um zukünftig eine fehlerhafte Aussprache zu vermeiden; die bis heute in diversen Internetplattformen vorherrschende Streitigkeit über Aussprache und Bedeutung des Begriffs konnte Johnson dadurch nicht kanalisieren. Karrer fasst eine Auswahl aus den Forumseinträgen der letzten 20 Jahre mit Vorschlägen der Aussprache zusammen und setzt sie neben gefundene Fotografien von Wassertropfen. Während einerseits um Aussprache und Bedeutung diskutiert wird, vermittelt die Arbeit eine überraschende Poesie: Einem dadaistischen Gedicht ähnlich, wird Wort um Wort erkämpft, werden Fotografien angeführt, die uns — ähnlich wie !Ping — mit ihren «Tropfenaugen» gesichtgleich anzusehen scheinen. Die digitale Welt blickt auf uns zurück.
Hier liegt denn auch das Besondere im Schaffen von Stefan Karrer. Er ist nicht der Künstler, der in seinen Arbeiten den moralischen Zeigefinger hebt. Vielmehr ermöglichen seine Werke ein Verständnis und eine Sensibilisierung für Phänomene, die längst ihren Lauf nehmen und uns, die wir bereits mehr oder weniger in digitale und virtuelle Welten eingestiegen sind, leiten und unser Handeln teils auch wesentlich bestimmen. (IG)
Stefan Karrer (*1981 in Basel, CH), lebt und arbeitet in Wien. Er studierte Musik und Medienkunst (BA) sowie Contemporary Arts Practice (MA) an der Hochschule der Künste Bern. Er ist Träger des Basler Medienkunstpreises 2017 und war 2019 Stipendiat der Atelier Mondial Residency in Johannesburg und Kapstadt.
Gruppenausstellungen und Performances (Auswahl): 2019 videokunst.ch Bern/Zürich; Haus für Kunst Uri; Kunstraum SUPER, Wien; Fak’ugesi Festival, Johannesburg; 2018 Hotbed, Seoul; Hotdock Bratislava; Fotomuseum Winterthur, Kunsthalle Basel; 2017 Biennale für aktuelle Fotografie, Mannheim; 2016 Cabaret Voltaire, Zürich; 2014 Flat Deux, London; 2013 Schwarzwaldallee, Basel
Stefan Karrer und Ines Goldbach danken: kulturelles.bl und damit dem Kanton Basel-Landschaft, der Fachkommission Kunst Basel-Landschaft, Bianca Pedrina, Raphaël Schmid, Daniel Karrer.