Die Landschaft, einst eines der wichtigsten Sujets der Malerei, führt seit der Moderne eine kunsthistorische Schattenexistenz. Ihren letzten Höhepunkt erlebte sie bei den Malern des Impressionismus, unter ihnen Lovis Corinth. Corinths berührendste Landschaftsbilder stammen aus den Jahren vor seinem Tod 1925, als er seine Sommer in den Bayerischen Voralpen am Walchensee verbrachte. Dass Axel Kasseböhmers neue Ausstellung in der Galerie von Monika Sprüth und Philomene Magers in Berlin den Titel 100 x Walchensee trägt, ist kein Zufall. Die Serie aus 100 kleinformatigen Ölbildern beruht auf Motiven eben dieses Sees. Einige von ihnen sind ganz in der Nähe des Sommerhauses von Lovis Corinth entstanden. Wie viele Landschaftsmaler vor ihm verfolgte auch Kasseböhmer ein privates Projekt bei seiner Arbeit an diesen Bildern. Sie sind das Ergebnis einer langen Rekonvaleszenz. Und doch sind es Landschaftsbilder, wie sie noch nie zu sehen waren. Sie loten nicht nur aus, welchen Stellenwert die Landschaft in der zeitgenössischen Kunst noch haben kann, sondern verhandeln auch, was Malerei überhaupt heute noch sein kann.
Kasseböhmers radikaler Ansatz zur konzeptuellen Malerei ist das Resultat einer langen Entwicklung. Bekannt wurde der Maler zu Beginn der achtziger Jahre mit enigmatischen Ölbildern, die Ausschnitte von bekannten Werken der Kunstgeschichte wieder in Erinnerung riefen. Es folgte ein Werkblock, für den er großformatige Landschaftsfotos so lange übermalte, bis das darunterliegende Foto verschwand. Danach entstanden verschiedene Bildserien, in deren Zentrum Stillleben, Bäume und Meereslandschaften standen und in denen er mit unterschiedlichen Stilen und Mitteln systematisch die Möglichkeiten der Malerei vermaß. Was alle seine Arbeiten verbindet, ist ein geschärftes Bewusstsein für die verlorenen Werte des Malerischen. Kasseböhmer unternimmt in seinem Werk nichts weniger als den fast schon unmöglichen Versuch, den malerischen Bildraum intakt ins Heute zu retten.
Auch die 100 „Walchensee“-Bilder, die zwischen 2010 - 2012 entstanden sind, erforschen die Möglichkeiten des malerischen Bildraums mit unterschiedlichen Mitteln. Teilweise sind die Stilelemente kunsthistorisch codiert und erinnern in Linienführung und Farbgebung an Corinth, Turner, Matisse oder Munch. Teilweise beruhen sie aber auch auf experimentellen Maltechniken, in denen Kämme, Bodenbeläge und andere Materialien zur Anwendung kommen. Das Ergebnis ist ein Panorama, das sowohl die Landschaft um den Walchensee als auch die Geschichte der Landschaftsmalerei und die mit ihr verbundene klassische Idee der Seelenlandschaft spielerisch ins Bild setzt. Zugleich kommen in der Serialität dieses Panoramas die unterschiedlichen Materialitäten, Stimmungen und diskursive Anbindungen zum Ausdruck, die allein durch die jeweils unterschiedliche Verwendung von Ölfarbe und Leinwand geschaffen werden können.
In ihrer Gesamtheit handelt es sich bei den „Walchensee“-Bildern gewissermaßen um Exponate einer dialektischen Ungewissheit. Sie sind gleichermaßen seriell und originär, gleichermaßen illusorisch und abstrakt. Die Horizontlinie etwa wird auf einigen der Leinwände semantisch aufgeladen, auf anderen fungiert sie lediglich als ein kompositorisches Organisationsprinzip, das verschiedene Farbflächen arrangiert. Insgesamt changieren Kasseböhmers Bilder vom Walchensee zwischen natürlicher Schönheit und einer Ästhetik der Zerstörung, zwischen hohem intentionalen Ernst und nachhaltigem Humor in der Materialverwendung. Während einige von ihnen großmeisterlich gemalt sind, stellen andere ihr gelegentliches Misslingen, ihr Scheitern aus. Es sind Bilder, die gleichzeitig obsolet und über alle Maßen zeitgemäß sind.
Das herausstechende Merkmal der „Walchensee“-Bilder ist ihre Widerständigkeit. Sie stellen sich selbstbewusst gegen eine Zeit, in der alles zum mediatisierten Bild gemacht werden kann, in der Alltagstechnologien durch ihre künstlerische Verwendung auratisch aufgeladen werden und in der dem unökonomischen, störrischen Medium der Malerei immer weniger Zukunft beigemessen wird. Jedes einzelne Ölbild dieser Serie tritt mit einer ureigenen Materialität und Präsenz in die Welt. Kasseböhmers Arbeiten kommen emphatisch als gemalte Bilder in der Gegenwart des Betrachters an. Sie geben ihm etwas zu sehen, das nur die Malerei imstande ist zu zeigen. Es sind Bilder, die von einer psychologischen Energie geprägt sind, die zutiefst an das Malerische glaubt, mitsamt seinen Jahrhunderte zurückreichenden Traditionen und Ausprägungen. Es sind Werke, die im gemalten Bildraum ein Hoffnungsmodell und einen Rettungsanker erkennen. Werke, die vom Glauben leben, dass die Malerei so viel mehr sein kann als die Welt.
Axel Kasseböhmer, Jahrgang 1952, hat in den siebziger Jahren bei Gerhard Richter an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert und ist der Galerie Sprüth Magers seit 1984 verbunden. Seit 2001 lehrt er an der Akademie der Künste in München. Er hat seine Arbeiten unter anderem in Einzelausstellungen im Westfälischen Kunstverein Münster (1989) und im Kunstverein München (1990) präsentiert, sowie in Gruppenausstellungen am Solomon R. Guggenheim Museum, New York (1989), dem Museum für Moderne Kunst, Frankfurt (1991, 1998), Museum of Fine Arts, Boston (1994), den Hamburger Deichtorhallen (1995) und der City Gallery in Prag (2005).
Zeitgleich zeigt Sprüth Magers Berlin die Einzelausstellung 1970s Solid-Light Works von Anthony McCall.
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