Die Uhr tickt – oder tempus fugit.

Dies sind altbekannte Weisheiten, die insbesondere dann präsent werden, wenn es gerade einen Jahreswechsel gibt, entweder kalendarisch oder biografisch. Ursula Sax, die große deutsche Bildhauerin, wird in diesem Sommer 90 Jahre alt!

Die Zeit ist aus den Fugen, treffender lassen sich die aktuellen Ereignisse in der (politischen) Mikro- wie in der Makrowelt nicht umschreiben. Auch die Unuhren, im Titel einer Werkgruppe von Ursula Sax aus dem Jahr 2007 wird schon darauf verwiesen, sind formal aus dem Rahmen gefallen. Sie bringen Chaos und neue Bedeutungen in den technischen Zeitmesser.

Was für ein Wort: U n u h r!

Es sagt alles, und lässt doch genug Raum für Interpretationen. Es spielt mit Begrifflichkeiten und den wörtlich, aber auch bildlich gewordenen ‚Selbstläufern‘ aus der Kunst- und Kulturgeschichte wie A rose is a rose is a rose (einem literarischen Werk mit diesem Titel) aus dem Jahr 1913 von Gertrude Stein, sowie das wichtige Werk von 1927 von René Magritte Ceci n‘est pas une pipe. Einmal in die Narrative der Kunstgeschichte und -wissenschaft und der Künstlerwelt eingespeist, begleiten sie die Künstlergenerationen seitdem und sind ein Fundus für den künstlerischen Rekurs oder die Inspiration.

Ursula Sax ist radikal eindeutig und mehrdeutig zugleich. Die Behauptung liegt in der Aussage, dass dieses Bild keine Uhr ist, was zweifellos bei den meisten Motiven so auch gesehen werden kann. Sie sind visuell ihrer Funktion beraubt, rekurrieren aber auf das seit Jahrhunderten tradierte Bild des Zeitmessers: ein Kreis und mehrheitlich mit der Abfolge der Ziffern von 1 bis 12 in einer rechtsdrehenden Laufrichtung und den zwei Zeigern für die Stunden und Minuten. Die visuellen Interventionen der Künstlerin am Computer füllen jede einzelne Unuhr mit neuem Leben. Das einzig Verbindende sind der Kreis als Urform und das bildliche Vokabular von zumeist Ziffern, arabischen, aber auch römischen. Doch auch sie können ersetzt werden und werden zur Nonsense-, zur Unuhr.

Heute, da jeder mit dem Computer vertraut ist, ist längst vergessen, dass der Einzug dieses inzwischen unser Leben dominierenden Apparats noch gar nicht so lange her ist. Die Generation Z kennt keine Zeit davor. Ein Leben ohne Computer ist für sie nicht mehr vorstellbar. Das Potential der einmal am Computer entworfenen Bildzeichen ist theoretisch unermesslich. Zuerst einmal sind sie – wie bei Ursula Sax seit Beginn ihrer nunmehr 75jährigen Künstlerkarriere – ein Ausdruck ihrer Neugier und des sich Verändern-Wollens, des künstlerischen Wachsens. Der dringende Anlass für die Erstellung einer Kunstwerkreihe zeitigt ein bestimmtes Material, eine künstlerische Technik, bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr weiterarbeiten kann, weil die Mission erfüllt ist.

Zeugnis dieser intensiven Arbeit ist ein Konvolut von individuellen Tintenstrahlausdrucken des einzelnen, am Computer entworfenen Bildzeichens. Sehr selten blitzt eine farbige Ziffer auf. Zumeist ist alles in Schwarz-Weiß gehalten und in DIN-A4-Größe. Einige Ausdrucke in DIN-A0 hat sie im Copyladen damals auch gleich mitgeschaffen. Die verbliebenen Bildwerke als Datei (nicht alle Bildwerke sind als Datei erhalten) sind der Ausgangspunkt für das aktuelle Schaffen von Editionsdrucken, einschließlich der Herstellung von Metallschildern mit entsprechendem Bildwerk. Im Zentrum wird vermutlich – noch ist alles zwei Wochen vor der Eröffnung eine Vision der Künstlerin – eine Hängeskulptur den Galerieraum dominieren, dessen Material die Schilder sind, nur monochrom gehalten. Dieses Mal können sie mit inneren Bildern der Betrachter in Gänze aufgeladen werden. Nur das Schildsein verweist im Kontext der Unuhren-Schildwerke auf das Thema Zeit. So entstehen unbeschriebene Blätter aus weißen pulverbeschichteten Aluminiumschildern.

Ergänzt wird diese Ausstellung durch eine weitere kleine Schau, die das Thema der Zeit und Vergänglichkeit gleichsam mit künstlerischem Leben anreichert. Eine kleine Überblicksausstellung aus sieben Jahrzehnten künstlerischen Schaffens von Ursula Sax, gespeist aus einer zum Verkauf angebotenen kleinen Berliner Privatsammlung. Jahrzehntelang wurde mit dem Sax’schen Werk gelebt, ein letztes Mal wurde es in den späten 1990ern ergänzt, und kürzlich aus dem leer gewordenen Haus entnommen. Nun suchen die Werke eine neue Lebensbegleitung.

Spuren des Lebens haben sich eingetragen in einer großen blattvergoldeten Rundstele von 1963, in Florenz geschaffen und dort auch vergoldet, die partiell der Restaurierung bedarf. Das früheste Werk, eine kleine Bronze, Figur genannt, stammt von 1957. Da war Ursula Sax 22 Jahre jung und in ihrem zweiten Kunststudium Schülerin von Hans Uhlmann in Berlin. Aus dem gleichen Jahr stammt ihre erste Auftragsarbeit für das Studierendenwerk Berlin: Das aufregend kühne, doch stoisch daherkommende Relief aus Rundstahlstäben, Almeno Due, ist als Dauerleihgabe von der Nationalgalerie angenommen worden.

Schade ist, dass es trotz ursprünglicher Planung nicht in der aktuellen Sammlungsschau zu sehen ist. Es ist wieder eine weitere Chance vertan, die sich nicht zu Gunsten der Künstler-Künstlerin entwickelt hat und ihre kanonische Festschreibung in die moderne Geschichte der Bildhauerei ein weiteres Mal verzögert – noch zu ihrer Lebenszeit als betagte „Grande Dame de la Sculpture“. Im vergangenen Herbst ist sie nun endlich mit 50-jähriger Verspätung Mitglied der Akademie der Künste in Berlin geworden. 1974 gab es dafür den ersten Anlauf, da kein geringerer als der Berlin gestaltende Architekt und Präsident der Akademie, Werner Düttmann, sie – dann leider vergeblich – vorgeschlagen hatte. Tempus fugit. Die Unuhr tickt.

(Text von Semjon H. N. Semjon, Berlin im Januar 2025)