Die Zeiten der großen Ungewissheit, in der plötzlich ganze Denk- und Verhaltensstrukturen sowie gesellschaftliche, politische und ökonomische Übereinkünfte – jahrzehntelang in langem Ringen miteinander geschmiedet – wegbrechen und zertreten werden, ist gleichzeitig die Zeit der Introspektion und der Beginn einer neuen kreativen Wende. Alle Katastrophen bergen in sich – so fatal das klingt und es auch ist – die Geburt des Neuen. Man muss es nur spüren und das Werkzeug entwickeln, es zu sehen. Kritischer Verstand ist die erste schöpferische Voraussetzung. Das Antennenwerk, die Stimmungen zu messen und in neue Energien umzuwandeln, ist dem schöpferischen Menschen gemein, egal in welcher Disziplin sie oder er schafft.
Der Hass, die Wut, das tierisch Brutale in uns Menschen bricht in solchen Zeiten wie der aktuellen unverblümt heraus, weiß sich plötzlich geborgen in einer großen Woge Gleichgesinnter und lässt den Unentschlossenen, weil Unsicheren, herausgerissen aus seiner bisherigen Komfortzone, lässt sich mitreißen ins neue große vermeintliche Ganze. Das Tabu als Regelwerk für ein zivilisiertes Miteinander, das nach vielen schmerzvollen Katastrophen eine große Leistung der verschiedensten Gesellschaften wurde, ist brüchig geworden. Europa droht auseinanderzubrechen, die alte Weltordnung ist ins Wanken geraten, ein paar alte Herren pokern um die Vormachtstellung und bedienen sich ungeniert der Menschen für ihre rücksichtslosen Interessen, als wären sie austauschbare Ressourcen. Die Natur, unsere Mitschöpfung, steht weltweit vor dem totalen Kollaps. Der schon vor Jahrzehnten vorausgesagte Nord-Süd-Konflikt ist unübersehbar in unsere 'vormals heile' Welt eingekehrt. Die Angst geht um.
Wenn Katja Flint in ihren fotografischen Porträts die ganze Klaviatur von emotionalen Befindlichkeiten aus dem Modell, mit dem Modell gemeinsam herausarbeitet, ist es ihr Anliegen, die Disparität unserer Emotionen in uns selbst und in dieser und mit dieser Welt zu spiegeln. Das Herauslocken des zu Beginn der Session noch unbekannten Moments von sehr bald aufkommenden, überwältigenden Gefühlen ist eine intime Angelegenheit im Arbeitsprozess mit dem Modell. Die Künstlerin, die in ihrem anderen künstlerischen Berufsfeld eine Meisterin der Darstellung von großen, aber auch kleinen, zarten, kaum merklichen Gefühlsregungen jeglicher Couleur ist, kann sich aufgrund dieser Erfahrung – gelernt als Techniken im Schauspielstudium und verfeinert im Theateralltag und in immer neuen filmischen Herausforderungen aber auch Dank ihres Talents der empathischen Intelligenz – mit dem Modell deshalb solidarisieren und es behutsam nun als Bildregisseurin in die gewünschte Richtung lenken.
In ihrem Studio ist der Beginn der Sitzung zumeist so gestaltet, dass anfänglich, sicherlich nach einigen Gesprächen, eine Stimmung in Richtung Aggression und Wut erzeugt wird, wobei der Protagonist immer mehr aus sich herausfährt, einem Befreiungsschlag gleich, um dann in weiche und sensible und mehr differenziert-subtile Emotionsregionen vorzustoßen. Katja Flint ist allerdings nicht an der präzisen Abbildung eines Gemütszustandes interessiert. Was sie reizt, ist das Wesen der jeweiligen Emotion darzustellen. Das Modell wird hier zum Transporteur eines oder mehrerer Gemütszustände, die über den dem Modell ureigenen augenblicklichen, herausgearbeiteten physischen und psychischen Zustand hinausgehen. Das Wesenhafte der Emotion zu erreichen, funktioniert verstärkt durch die Entpersonalisierung des Modells. Die Unschärfe ist hierbei ein wichtiges Gestaltungsmoment. Es 'schützt' die fotografierte Person vor einem entblößenden Verismus. Geschuldet ist die Unschärfe der in Langzeitbelichtung festgehaltenen Bewegung. Zumeist ist es die Bewegung des Kopfes im Bild – der Oberkörper 'trägt' mehrheitlich statuarisch fixiert und deshalb scharf dargestellt die (e-motionale) Aktion. Der pechschwarze abstrakte Umraum, man könnte ihn auch als Bühnenraum bezeichnen, verstärkt bzw. dramatisiert das Geschehen und distanziert das Modell zugleich vom Subjekt zum Objekt. Die Langzeitbelichtung, die die Kopfbewegung nachzeichnet, wird nicht zu einem verhuschten Schatten, sondern durch eine pointierte Ausleuchtung zu einem Lichtgespinst, das mal mehr oder weniger die Anatomie des Kopfes fast präzise abbildet, aber das für die Künstlerin Wesentliche, ja Eigentliche einfängt: z. B. der Schmerzens- oder Wutschrei bei Toni und Lisa, mit weit aufgerissenem Mund und den weiß bleckenden Zähnen, fast wie eine Röntgendarstellung geschickt mittels Ausleuchtung inszeniert, wird unheimlich und überwältigend in der Vehemenz, oder der zum reißerischen Wolf mutierende Wulf Oscar, dessen weißer Bewegungsschatten rechts vom Kopf das 'Tierische' verstärkt, zumal die Augen mit den leicht ellipsoid verzogenen Pupillen ein unheimlich aggressives Aufblitzen uns entgegenschleudert. Aber es gibt auch freundliche Emotionen: Joker wird durch die Kreis-Bewegung des Kopfes fast zu einer zärtlich heiteren Groteske, dessen weit in die Breite aufgerissener Mund ein freundliches, mit sich selbst im Reinen seiendes, fast unschuldiges Lächeln formuliert. Rockstar K. verwandelt das Modell (hier ist Katja Flint zugleich Modell und Bildregisseurin) zu einem androgynen Wesen, das neugierig, selbstzufrieden, keck und diabolisch verklärt in sich hinein und doch den Betrachter anschaut, ohne dass man in das Gegenüber eindringen kann: Die Augen werden zu einem eigentümlichen Schattenband. Die korrekte Anatomie des Blickes hingegen wird nicht in Frage gestellt.
Fast alle Fotografien sind Querformate. Das ist ungewöhnlich für Porträtfotografien. Im Englischen wird als Begriff für eine Hochformat auch portrait size verwendet (für das Querformat landscape size). Das Abbild eines Menschen, zumeist als Fokussierung auf den Kopf, sein Gesicht als der Träger des Essentiellen einer Persönlichkeit, ist aufgrund seiner Funktion – der Kopf hat anatomisch gesehen eine vertikale Ausrichtung und keine horizontale – festgelegt auf das Hochformat. Katja Flint hingegen nutzt eigensinnig das Querformat. Warum? Es liegt vor allem im Technischen begründet, aber auch in ihrer künstlerischen Absicht: Die Darstellung der Emotion versucht sie über die Bewegung in einem einzigen Bild (nicht als Film, also einer Bilderfolge!) herauszuarbeiten. Das kann aber nur in einem vorgegebenen (Bild-)Raum funktionieren, der sich entweder nach oben oder nach unten (Hochformat) oder zur Seite entwickelt (Querformat). Der prozessuale Charakter einer Emotionsentwicklung ist über die Zeit definiert. Die Zeit aber wird bildlich von alters her horizontal gedacht, als Abfolge von Einzelbildern. Die Mimik ändert sich über Sekundenbruchteile. Es gibt keine ad-hoc-Reaktionen auf Knopfdruck, denn der physischmimische Ausdruck ist ein komplexes Gefüge von Gesichtsmuskulatur, Hautspannung und Veränderung der Pupillengröße. Die Langzeitbelichtung ermöglicht der Künstlerin, entweder das Gesicht, dessen Physis sich gerade verändert, mit der Kamera (wie bei einer Filmkamera) 'abzufahren' oder aber den Bewegungsablauf des Gesichtes des Protagonisten bei statischer Handhabung der Kamera über Langzeitbelichtung festzuhalten. Vermutlich ist beides mehr oder weniger gleichberechtigt. Es drückt unter anderem aus, dass die Fotografin eng mit dem Modell zusammenarbeitet, ihm einerseits Autonomie gewährt und gleichzeitig auch formal das zu erarbeitende Bild gestalten kann. Sie ist also Regisseurin, Dokumentaristin und Gestalterin in einem. Das Prozessuale im Entstehen eines einzigen Bildes verdeutlicht aber auch den Transformationsaspekt vom Subjekt zum Objekt. Es geht der Künstlerin um die Darstellung von Emotionen oder seelischen Zuständen. Da ist das Modell der Träger dafür, und die bildmächtige schwarze Dunkelheit exponiert veristisch den Lichtschatten der Emotion.
Die in den Räumen von Semjon Contemporary gezeigte Einzelausstellung Eins ist eine reduzierte Übernahme der zuvor in der Kunsthalle Rostock gezeigten titelgleichen Ausstellung. Der Werkkörper wird hier auf andere Weise inszeniert werden, als es in Rostock der Fall war, gegeben durch die Raumsituation in der Galerie und ihre Größe. Eins wird sich durch seinen Charakter der Inszenierung als Kabinettausstellung darstellen, u. a. durch die verschiedenen kleinen Räume, aber auch durch die kompositorischen Zusammenstellungen mehrere Fotografien zu Clustern, die in den Räumen ein spannungsreiches dialogisches Miteinander ergeben. Und hier kommen dann Bilder besonders zum Tragen, die man auch als stark dialogisch beschreiben könnte: Mother und Daughter ist so ein Beispiel.
Die Kraft der Fotografien der Werkgruppe Eins von Katja Flint liegt darin, dass sie sich gegen bisherige klassische Muster der Porträtfotografie stemmt und eine eigene Bildsprache formuliert, die den Betrachter selbst zu assoziativen Betrachtungen einlädt, ohne eine definierte Erzählung vorzugeben. Gleichzeitig weist sie über das Individuelle einer Porträtfotografie hinaus und schafft eine distanzierte Augenblicklichkeit, die den bildbestimmenden Protagonisten entindividualisiert, das Subjekt zum Objekt werden lässt, um das Eigentliche eines oder mehrerer emotionaler Zustände zu porträtieren. Der Betrachter kann sich selbst in dem Bild erkennen oder gar verlieren.