François-Xavier Roth gehört zu den besten Dirigenten seiner Generation und ist seit Beginn der Spielzeit 2015.16 Generalmusikdirektor der Stadt Köln und Kapellmeister des Gürzenich-Orchesters. Der Sohn des Organisten Daniel Roth dirigierte bekannte und berühmte Orchester wie das BBC Symphony Orchestra, die Wiener Philharmoniker, die Wiener Symphoniker, der Bayerischen Staatsoper in München, die Bamberger Symphoniker, das niederländischen Radioorchester, das dänischen Staatsorchester, das NHK-Sinfonieorchester in Tokio, die Göteborger Symphoniker und das Finnischen Radiosinfonieorchester. Wir hatten das Vergnügen, mit ihm zu sprechen.
Grundsätzlich hat die Musik drei Elemente: Ruhe, Ton und Rhythmus. Alles Weitere wird von diesen Elemente regiert, aber die Menschen heutzutage haben vergessen, was Ruhe ist. Warum ist sie so wichtig in der Musik? Was ist eigentlich Ruhe?
Sie ist sehr wichtig! Welche Art von Ruhe ist vor der Musik und welche danach? Und was ist zwischendurch? Stille ist auch … Es gibt diesen berühmten Satz: “Eine Stille nach Mozart-Musik ist noch Mozart”. Und das stimmt, die Musik hat mit Tönen, Klängen zu tun und wenn es die nicht mehr gibt, zum Beispiel in einer Pause, dann hat diese Pause auch viel mit der Musik zu tun.
Dann haben wir etwas interessantes namens Rhythmus. Was ist Rhythmus wirklich? Ein Rahmen für die Klänge, ohne den man nur sehr schwer über Musik sprechen kann? Ist Rhythmus eine Art Inszenierung für die Töne? Ist es so, oder sehen Sie etwas mehr?
Also, Rhythmus ist eine Struktur von Musik und etwas ist sehr interessant: wenn du Rhythmus ohne Melodie spielst, oder Töne ohne Rhythmus, was erkennt man dann als Musik? Das Werk ist mit Rhythmus, nicht mit Tönen erschaffen. Es ist sehr interessant, man erkennt, wie wichtig Rhythmus ist, vielleicht wichtiger als die Melodie oder die Töne. Der Rhythmus ist früher als die Melodie oder die Töne. Der Rhythmus ist zuerst da. Leben, Blut, Laufen, Jogging, Schlafen, alles das hat mit Rhythmus zu tun. In der Musik ist er wie ein Herz, ein Puls den man nicht stoppen kann. Rhythmus ist ein Fluss in der Musik … Und sehr oft wird er in dir klassischen Musik nicht richtig gesehen, verglichen mit Jazz oder afrikanischer Musik, oder aller anderen Musik, die den Rhythmus ernst nimmt. Aber in der klassischen Musik ist dieser Aspekt von Groove im Rhythmus ein bisschen versteckt, obwohl es Groove gibt bei Johann Sebastian Bach, bei Vivaldi, Mozart, Beethoven … Bei Wagner auch, aber man muss ihn nicht verstecken, sondern ihn finden als Motor vom Rhythmus.
Dann kommt die Betrachtung vom Zuschauerraum, was die Zuschauer sehen. Tanzt ein Dirigent?
Nein, das Dirigieren ist keine Choreografie. Der Dirigent provoziert und organisiert gemeinsame Aktionen für die Musik. Was ein Dirigent oder eine Dirigentin macht, ist überhaupt nicht wichtig. Und sehr oft denkt man, weil er oder sie auf dem Podium steht und er eine choreografierte Bewegung macht, also, was macht er oder sie? Und dann hat man eine gewisse Vorstellung davon, aber die ist total banal. Natürlich schätze ich sehr, was ich mache, und es gibt immer einn Grund, wenn ich das mache, oder das, oder das … Aber es ist dumm, nur diese jeweilige Geste zu betrachten. Sie ist bloß wie die Spitze von einem Eisberg, der sehr groß ist, aber man erkennt nur einen kleinen Teil. Sehr oft kann man ohne Arme dirigieren, nur mit einem Gesichtsausdruck, einem Blick. Dirigieren ist so reich und gleichzeitig so arm, denn alle können eins, zwei, drei, vier schlagen, das ist simpel und total vereinfacht, aber das Wichtige ist, was ich mit dem Orchester kommuniziere.
Noch ein Element: die Partitur.
Ja!
Wir leben in einer sehr technisierten Welt, voller Algorithmen für das tägliche Leben. Kann man sagen, dass eine Partitur eine Art Programm ist, in dem steht, was zu tun ist?
Eine Partitur ist ein Kunstwerk, in dem besondere Zeichen stehen, die man als Musiker verstehen muss. Meistens benutzen die Komponisten die gleichen Zeichen, aber manchmal ganz andere, und es ist die Aufgabe der Musiker, zu verstehen was sie in der Musik von diesen Komponisten heißen. Aber eine Partitur ist ein Kunstwerk, sie hat nichts mit Technologie zu tun. Was meinst du mit deiner Frage?
Ich meinte ein Programm, wie eine Anleitung …
Ja, das auch. Man muss dem Willen des Komponisten folgen, aber auch … Zum Beispiel ein Fitnessprogramm … Ich muss doch diese Bewegung machen und so weiter. Das ist sehr pragmatisch … Bei einer Partitur gibt es so was nicht. Was heißt ein Forte?
Heißt das, es gibt eine Kreation bei der Interpretation?
Das heißt, dass die Musiker lernen müssen, eine Partitur wirklich zu lesen.
Wie bereitet François-Xavier Roth eine Partitur vor? Hat er ein Rezept oder Geheimnis?
Ein Rezept kann ich nicht geben. Was ich sagen kann ist, dass ich die Partitur nicht immer auf die gleiche Weise einstudiere. Wenn ich zum Beispiel, einen Komponist sehr gut kenne, ihn sehr viel dirigiert habe, brauche ich weniger Zeit, um ein neues Werk von ihm zu lernen, aber mit unbekannten brauche ich viel mehr Zeit. Und ich beginne sehr früh mit dem Studium des Werks. Da ich Woche für Woche viel Musik gleichzeitig dirigiere, benötige ich mehr Zeit und beginne deswegen sehr früh, manchmal zwei Jahre im Voraus. Ich lese, notiere, lasse es liegen und dann gibt es einen Verdauungsprozess. Nach Wochen oder Monaten gehe ich dann intensiver daran, usw. Ich höre keine CD, ich spiele kein Klavier (ich war Flötist also, kein guter Klavierspieler), aber ich höre gut zu. Schon immer habe ich viele Uraufführungen gemacht und das ist sehr gutes Training für das Gehör. Und ich lese sehr vieles Paralleles und natürlich über den Komponisten und was passiert ist in dieser Region von Europa oder Amerika und so weiter. Alles über die Werke lese ich gerne.
In der Opernwelt sind Wort und Musik Gegensätze, wie in Capriccio von Richard Strauss, oder gilt „la parola e la musica“ bei Verdi. Es gibt ja viele Dirigenten, die mitsingen, und eine spezielle Arbeit mit dem Text machen. Wie kombiniert François-Xavier Roth diese Elemente?
Erstens, wie wichtig ist der Text für den Komponist, und welchen Einfluss hat der Text in dem Werk. Es gibt Komponisten, bei denen der Text sehr wichtig ist, bei anderen ist er weniger oder überhaupt nicht wichtig. Zum Beispiel, eine Oper von Morton Feldman, Neithers. Es gibt nur eine Sopranistin auf der Bühne, die Oper dauert etwas mehr als eine Stunde und die Musik von Feldman ist sehr ruhig. Als Texte gibt es nur zwei oder drei Sätze von Samuel Beckett. Er hatte eine Postkarte geschrieben und das ist das ganze Libretto dieser Oper! Also, bei diesem Werk brauchst du den Text nicht zu verstehen. Es gibt viele Wiederholungen und Stretch. Also, die Wörter sind nicht wie ein normaler Kontext wo man ein Argument verstehen muss, sondern es ist ein elastischer Text.
Wenn du Bach ansiechst, wo es heißt Halleluja, Halleluja, Halleluja, Credo, Credo, Credo, Amen, Amen, Amen … Da kennt man den Text schon, er ist keine Überraschung, oder der Komponist inszeniert den Text, da ist der Ausdruck oder die Variation sehr interessant. Das ist sehr spannend! Und es gibt Opern, worin der Text ein Teil von reinem Theater ist, das heisst, wir brauchen andere Ausdrücke, wir arbeiten hier mit dem Text. Jetzt sage ich dir etwas sehr Persönliches: Wenn ich mit der Sprache ein Problem habe, dann habe ich keinen Kontakt, um Musik zu machen. Janáček zum Beispiel hat fantastische Musik, die ich gerne dirigieren möchte, aber ich verstehe kein Wort, das ist mir eine sehr ferne Sprache. Auch wenn ich kein Italienisch spreche, verstehe ich es, weil es viele gemeinsame Wurzeln mit dem Französisch gibt. Aber Russisch! Auch wenn mir jemand sagt, das bedeutet dieses, das jenes, ist es nicht dasselbe.