Li Cheng ist Drehbuchautor und Filmregisseur, in China geboren und in die USA ausgewandert, ist er nun Weltenbummler. José ist sein zweiter Spielfilm und im Wettbewerb für den Queer Lion Award. Li Cheng im Gespräch auf den 'Giornate degli Autori'.
Li, dein Film hat es auf die Filmfestspiele von Venedig geschafft. Für mich, als Lateinamerikaner, der nach ungewöhnlichen transkulturellen Beziehungen sucht, ist dein Film José herausragend. Die Liebesgeschichte ist universell, aber der Kontext, die sozialen Bedingungen sind spezifisch lateinamerikanisch. Deshalb möchte ich über die Absichten und Bedingungen sprechen, die dich dazu gebracht und diesen Film erlaubt haben.
Wie viele Länder und Orte hast Du besucht, bevor Du entschieden hast José in Guatemala zu drehen?
Wir machte unsere Recherchen in Mexiko, Brasilien, Argentinien, Uruguay, Peru, Ecuador, El Salvador, Kolumbien, Chile, Costa Rica, Honduras, Guatemala – also 12 Ländern und in etwa 20 der am dichtesten besiedelten Städte. Mittelamerika hat uns am meisten beeindruckt, das war entscheidend. Eigentlich war Guatemala der letzte Ort, aber ich wusste sofort, dass ich da einen Film machen wollte.
Das Filmemachen mit Gemeinschaften ist riskant und arbeitsintensiv. Aber Beziehungen aufzubauen und Schauspieler zu finden bereichert und beflügelt den kreativen Prozess. Während Du in Joshua Tree (2014) die Auswirkungen der Wirtschaftskrise von 2008 auf eine Gruppe von US-Bürgern – deine Freunde und Verwandten waren betroffen – behandelt hast, Interviews geführt, ein Set gebaut und Schauspieler besetzt hast, sehe ich in José einen eher neorealistischen Ansatz: Viele Außenaufnahmen, die Figuren scheinen sich selbst in einer ihnen vertrauten Umgebung zu spielen. Das führt mich zu der Annahme, dass das Casting, nach dem Schreiben des Skripts, womöglich 60% der Arbeit ausgemacht hat, um die gewünschte Qualität sicherzustellen. Kannst Du deine Herangehensweise beschreiben?
Ich habe viel Zeit und Mühe in das Casting gesteckt, aber um annähernd den Prozentsatz den Du zitierst zu erreichen, müsste ich die Suche nach Dreh-Orten hinzuzählen (was ich tatsächlich tue ...). Wir filmten an weit über 100 Orten und in drei völlig verschiedenen Regionen des Landes: in der kühlen luftigen Großstadt im Hochland, an der heißen und ländliche Pazifikküste und im Regenwald an der Karibikküste.
Wie fühltest Du dich als ausländischer Filmemacher?
Es ist eine Herausforderung: Aufregend und voller Entdeckungen, aber auch mit einem hohen Verantwortungsgefühl. Es wird leichter sobald die Geschichte in meinem Kopf an Form gewinnt und ich de Drang spüre, sie auf die Leinwand zu bringen. Wir haben bei Null angefangen. Als wir in Guatemala ankamen, kannten wir niemanden. Als das Skript kurz vor der Fertigstellung stand, begannen wir über Soziale Netzwerke nach Mitarbeitern zu suchen. Wir fingen an Leute zu treffen, es entstanden Vertrauen und gemeinsames Engagement. So kommt ein Schneeball ins Rollen und wächst Schicht um Schicht.
Filmfinanzierung zwischen Ländern ist schwierig, noch schwieriger aber, wenn keine institutionelle Unterstützung zu erwarten ist, da die meisten Fonds nationalen und Brancheninteressen gehorchen. Habt Ihr versucht Mittel zu beantragen?
Nein, wir haben in keinem Stadium der Produktion Anträge gestellt. Anträge nehmen Zeit und Mühe in Anspruch und hatten zudem geringe Erfolgsaussichten. Viele Verhandlungen und Kompromisse mit Geldgebern wären die Folge gewesen. Wir arbeiten lieber schnell und ohne derlei Einschränkungen. Nachdem die Recherchen und das Buch abgeschlossen waren, hatte ich das Gefühl, dass wir etwas Solides hatten. Also verkaufte ich meine Wohnung in den USA um das Geld zu haben. Wir vertrauten auf das Modell eines sorgfältig geführten Budgets, einer kleinen Crew und realen Drehorten. Ich hoffe, JOSÉ rechtfertigt dieses Modell.
Die Fotografie, die Bilder jener urbanen Realität sind voll visueller Poesie. Die Wiederholungen betonen die Gefühlswelten der Charaktere. Für ausländische Filmemacher kann das Vermeiden attraktiver Bilder ethnischer oder lokaler Prägung eine Herausforderung darstellen. José, in seiner schlichten Schönheit der lateinamerikanischen Großstadt, spricht die Zuschauer des Subtilen an. Hast Du das Gefühl, dass es ein wachsendes Publikum für Filme gibt, das mit scharfem Auge auf eine ziemlich raue urbane Realität blickt?
Ich war auf der Suche nach einer urbanen Geschichte. Die Städte in der Welt wachsen sehr schnell und es ist dort, in den Städten, wo Innovationen stattfinden und ein Großteil an Zwischenmenschlichem verhandelt wird. Dagegen stagnieren dies in ländlichen Gebiete eher. Ob es ein wachsendes Publikum gibt? Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es ... Ich habe noch andere Geschichten in diesen Stil.
Die Familie ist in Lateinamerika etwas sehr Wichtiges und das traditionelle Hetero-Familienmodell gilt als ein starkes Ideal, aber in Wirklichkeit sind Patchwork-Familien, alleinerziehende Mütter und versteckte Homosexualität häufig. Ist dein Film ein Aufruf zu Toleranz und Akzeptanz, also Realitäten zu konfrontieren, anstatt zu idealisieren?
Die Geschichte basiert auf Hunderten von Interviews in 12 Ländern. Wir fanden viele Geschichten. Wir haben von Müttern gehört die ihre Söhne misshandeln, weil sie schwul sind, andere sind aufgeschlossener. In Guatemala scheint es dramatischer und schwieriger, da annähernd 90% der Personen als sozial konservativ oder homophob betrachtet werden können. Meistens ahnen Mütter schon etwas von der Homosexualität des Sohnes, aber die Akzeptanz kommt langsam. Ich hoffe, dass Mütter durch meinen Film mehr Verständnis für ihre Söhne entwickeln.
Die Hauptfigur steht an einem Scheideweg, den so einige der Schauspieler vielleicht auch erlebt haben. Film wird oft auch als ein Fluchtort erachtet oder als ein Territorium von Möglichkeiten. Hast Du den Zwispalt der Hauptfigur, José ähnlich unter den Beteiligten verspürt? Haben einige das Ende der Geschichte eher widerwillig akzeptiert?
Ich wählte dieses Ende, um Möglichkeiten und Hoffnung für JOSÉ zu lassen. Er lebt und lernt weiter (wie ich). Er geht in die Welt, um alles zu sehen und zu fühlen was das Leben zu bieten hat; es könnte also alles passieren.
Eine letzte Frage zum Kontext. Manchen Filmen gelingt es, etwa durch musikalische Referenzen, sich in das kulturelle Erbe eines Landes einzuschreiben. Die Musik in JOSÉ beruht auf einer eigens für Kammerorchester geschriebenen Kompositionen um Atmosphäre zu schaffen. Wie stand es um prominente lokale Volkslieder. Hattest Du auch darüber nachgedacht aus der guatemaltekischen Lyrik zu schöpfen?
Ich habe wenig Musik genutzt, insgesamt an fünf Stellen, und für den Abspann. Ich habe viele Ideen ausprobiert und schließlich eigene Musik gewählt, also etwas was der Klassik nahesteht. Es schien mir das Richtige zu sein, um im Film vor und zurück zu gehen und weiter zu kommen.
José (2018) von Li Cheng, Guatemala/USA., 85 min. Weltpremiere in Venedig am Do. 6. September 2018, 11:30 h Sala Perla (Gefolgt von Q&A) und Fr. 7. September 2018, 20:00 h.
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