Der Frankfurter Kunstverein hat Yves Netzhammer, Theo Jansen und Takayuki Todo eingeladen, eine Auswahl ihrer Werke in Einzelpräsentationen zu zeigen, für die der gemeinsame Titel „Empathische Systeme“ eine thematische Überkategorie setzt.
Theo Jansen verfolgt mit seinen kinetischen Skulpturen die Vision, neue artifizielle Lebensformen zu schaffen. Die Ausstellung im Frankfurter Kunstverein präsentiert zwei seiner Wesen, der sogenannten „Strandbeests“, „Umerus“ und „Ordis“. Handzeichnungen und technische Skizzen visualisieren die mathematischen Gleichungen, auf deren Basis die Bewegungsmechanismen der Maschinen stattfinden.
Jansen ist es gelungen, nichtbiologische Wesen aus industriellen Materialien zu erschaffen, die im Betrachter aber den Eindruck lebender Kreaturen evozieren. Es sind die Bewegungen, die eine gefühlsmäßige Reaktion im Betrachter hervorrufen, und ihn ins Staunen versetzen. Die Einzigartigkeit der Gebilde liegt in der Tatsache, dass sie eine eigenständige Bewegung allein aus Windkraft entfalten. Jansen nennt seine Konstruktionen „Strandbeests“, da er sie für die spezifischen Umweltbedingungen einer Strandlandschaft schafft. Jansen entwickelt diese Konstruktionen mit immer neuen Fähigkeiten und bezeichnet die jeweilige Form als eigene Gattung, denen er lateinische Namen gibt, in Anlehnung an die Vorgehensweise der Naturwissenschaften. So bedeutet das aus dem lateinischen konjugierte Verb „Ordis“ „du beginnst“ und das Substantiv „Umerus“ Schulter.
Die Ausstellung zu Theo Jansen wird in der gesamten oberen Etage des Frankfurter Kunstvereins präsentiert. Im großen Saal befindet sich eine der größten kinetischen Skulpturen von Jansen, „Umerus“ (12 x 2 x 4 Meter). „Umerus“ wird zu bestimmten Zeiten mittels Kompressoren animiert. Daneben zeigt Jansen die Skulptur „Ordis“ (2 x 2,30 x 1,70 Meter), die von den Besuchern mit ihrer eigenen Körperkraft bewegt werden kann und ein körperliches Erlebnis bietet. Handzeichnungen und technische Skizzen vervollständigen die Präsentation, indem sie mathematische Gleichungen visualisieren, die die Funktionsweise der Maschinen beschreiben.
Theo Jansen hat angewandte Physik an der Technischen Universität in Delft studiert. Seit den 1990er Jahren schafft er seine Werke im Kontext künstlerischer Praktiken.
Die Ursprünge von Jansens „Strandbeests“ liegen in einem Computerprogramm, das er 1991 programmiert hat und dessen System er auf alle Arbeiten überträgt und somit das jansensche Bewegungsprinzip international bekannt gemacht hat. 2016 hat die NASA Theo Jansen eingeladen, an einem Think Tank teilzunehmen, um mögliche Projekte für autonome Maschinen zu entwickeln, die in zukünftigen Weltraummissionen zur Venus eingesetzt werden könnten. Jansen hat weltweit eine Community an Bewunderern, die die einmaligen Mechanismen seiner Arbeiten als Ausgangspunkt für Weiterentwicklungen der Grundgedanken und -formen in den Bereichen von Wissenschaft und Kunst nutzen.
Jansen verwendet gelbe Kunststoffrohre, Kabelbinder und Plastikflaschen als Ausgangsmaterial für seine Arbeit. Jedes „Bein“ besitzt ein Kurbelsystem mit 11 Rohrteilen. Die Rohre sind perfekt aufeinander abgestimmt, sodass die Bewegung der Kreaturen entlang einer horizontalen Linie gleitet. Durch die Speicherung von Wind können sich die kinetischen Gebilde über einen kurzen Zeitraum hinweg auch ohne externe Energiequelle bewegen. Flügel pumpen Luft in leere PET-Flaschen, die als Körperteile der Kreaturen dienen. Die Proportionen der Rohre sind dabei für den Bewegungsablauf entscheidend. Das so genannte „Gehirn“ der Kreaturen besteht aus einem Stufenzähler, der auf einem binären System basiert, das es den Skulpturen ermöglicht, ihre Umgebung wie urtümliche Geschöpfe zu interpretieren und darauf zu reagieren. Im Fall von „Umerus“ basiert sein System auf einer Reihe leerer Flaschen, die mit Luft gefüllt sind. Wenn die Kreatur ins Wasser läuft, füllen sich die Flaschen stattdessen mit Flüssigkeit, wodurch die Funktion des binären Systems geändert und der Lauf der Maschine umgekehrt wird. So nimmt „Umerus“ seinen Standort in der Welt wahr. Es ortet sich selbst in einer bestimmten Position und leitet eine Vorstellung davon ab, wo sich die Gefahr des umgebenden Meeres ebenso wie die verbleibende Landschaft befindet. Generell könnte man spekulativ fragen, ob die Maschine eine eigene – wenn auch einfache – Vorstellung von Welt erzeugt.
Im Laufe der Jahre hat Jansen seine „Strandbeests“ kontinuierlich weiterentwickelt. In einigen Jahren, so Jansens Vision, sollen sie eigenständig und in Gruppen in der Natur existieren können. Zwar besitzen sie weder Stoffwechsel noch vermehren sie sich autonom, doch in der Fähigkeit der Bewegung und der Reaktion auf Umweltbedingungen sieht Jansen Grundmerkmale artifiziellen Lebens, dessen Weiterentwicklung er betreibt.
Die Bewegungen seiner Kreaturen lösen im Betrachter meist Faszination aus, die auf der Besonderheit der komplexen Bewegungsmuster beruht, die organisch anmutet und an Lebewesen erinnert. Die eindeutig als artifiziell erkennbaren Gebilde evozieren den organischen Gang und die Motorik von langbeinigen Insekten, in anderen Kreaturen-Gattungen von Raupen.
Jansens Wesen erinnern an archaische Skelette, an Knochengerüste, die ästhetisch in der Schwebe zwischen biomorphen und anorganischen Wuchsformen verweilen. Obwohl es Jansens Konstruktionen offensichtlich an Geist und freiem Willen fehlt und er eindeutig der menschliche Autor bleibt, machen ihre autonomen Bewegungsabläufe dies vergessen. Die Bewegung wird zum Merkmal des Lebendigen. Im Betrachter entsteht gleichzeitig durch Emotionen und kognitive Erkenntnis assoziativ die Annahme, dass die Motorik das Attribut eines lebendigen Wesens ist.
In ihrer Einzigartigkeit stehen die Kreaturen als neuartige ästhetische Formen da.
Die Kraft von Jansens Arbeiten liegt darin, dass sie frei jeder Funktion sind, ihre Handlungen ohne Absicht sein dürfen. Sie wiederholen die immer selbe Handlung des Fortscheitens in Raum und Zeit, des Weiterlaufens, indem sie ihre Kraft allein vom Wind beziehen. Sie sind unabhängig vom Stoffwechsel eines lebenden Körpers und unabhängig von der Energieversorgung einer Maschine. Es ist eine Kreatur eigener Form. Was uns Betrachter an den Wesen fasziniert ist, dass sie frei von der Gesetzlichkeit eines Bewusstseins um die eigene Endlichkeit agieren. Sie sind und fürchten nicht das eigene Vergehen. Sie folgen ihrem inneren Programm und ihrer Bestimmung ohne diese als Schicksal zu begreifen. Es ist der Betrachter, der in den Gebilden etwas erkennen kann, was das Wesen nicht in sich trägt. Ihre Physis, ihre leibliche Beschaffenheit ist derart von Jansen geschaffen worden, dass wir eine Berührtheit empfinden, die sich gleichzeitig auf mehreren Ebenen, der kognitiven und der emotionalen, entfaltet.